Liebe, Trauer, Einsamkeit, Zweifel, Staunen und Hoffnung - um all das kreisen die Songs auf "Moon Mirror", doch am Ende führen die hart errungenen Weisheiten immer zurück zum festen Glauben an die Möglichkeiten, zu dem, was noch vor uns liegt. Das ist auch das Thema der ersten Single der LP, "In Front Of Me Now", mit dem Frontmann Matthew Caws sich und sein Publikum daran erinnert, dass wir nur ein Leben haben und es nicht unnütz vergeuden sollten. Es ist diese Erkenntnis, die dafür sorgt, dass Nada Surf auf "Moon Mirror" so leidenschaftlich und inspiriert klingen wie schon länger nicht mehr. Kein Wunder, dass Matthew seine ganz eigene Antwort auf die Frage gefunden hat, was ihn nach all den Jahren immer noch bei der Stange hält. "Zum einen ist es eine gewisse Gewohnheit, zum anderen hat sich herausgestellt, dass ich fröhlich im Moment, aber von Natur aus ziemlich angespannt bin", gesteht er beim Zoom-Interview mit Gaesteliste.de. "Gitarre zu spielen wirkt auf mich unglaublich beruhigend, und für das Singen und die Arbeit an Musik gilt das auch. Ich mache nicht ständig Musik, aber wenn ich es tue, ist es eines der wenigen Dinge, die meine Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch nehmen und bei denen ich nicht in Versuchung komme, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich merke dabei nicht, wie die Uhr tickt. Man könnte auch sagen: Es holt mich aus meinem normalen Zustand heraus."
Auch Nada Surf als Band wurden vor der Veröffentlichung des neuen Albums aus ihrem "normalen Zustand" gerissen. Besetzung, Co-Produzent (der langjährige Bandweggefährte Ian Laughton) und der Aufnahmeort (die legendären Rockfield Studios in Wales) blieben zwar unverändert, aber nachdem in den letzten zwei Jahrzehnten sämtliche Werke der Band auf Barsuk Records in den USA und City Slang in Europa erschienen waren, wird "Moon Mirror" nun auf New West Records veröffentlicht, dem geschmackssicheren Label aus Nashville, das in den letzten 25 Jahren mit Werken von Steve Earle, Drive-By Truckers, Ben Folds oder Ben Lee immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hat. Doch auch wenn Nada Surf sehr glücklich sind, dort gelandet zu sein - ganz freiwillig geschah diese Veränderung nicht. "Es ist einfach so, dass unser amerikanisches Label Barsuk nicht weiter neue Platten veröffentlicht", erklärt Matthew. "Sie werden sich in Zukunft ausschließlich um ihren Backcatalog kümmern. Unser Manager fragt schon seit Jahren, immer wenn eine neue Platte ansteht: 'Jungs, seid ihr bereit, mal nach einem anderen Label zu schauen?', aber ich habe immer geantwortet: 'Nein, Barsuk sind unsere Freunde und wir sind glücklich dort!' Dennoch ist New West ein Label, mit dem ich schon lange zusammenarbeiten wollte. Das Schöne daran ist, dass mir das sagt, dass meine Begeisterung echt ist! Dass wir deshalb auch City Slang den Rücken kehren mussten, ist traurig, aber inzwischen gibt es kaum noch individuelle Deals, es gibt nur noch weltweit oder gar nicht. Ich habe dann einen emotionalen Brief an City Slang geschrieben, denn ich liebe die Leute dort, und ich werde immer gerne an die Jahre mit ihnen zurückdenken. Für mich ist City Slang das perfekte Label! Das war eine traurige Veränderung, aber wie das so ist, das Leben geht weiter. Ich vermisse die City-Slang-Leute und hoffe, dass wir sie trotzdem wiedersehen und vielleicht eines Tages wieder bei etwas anderem zusammenarbeiten können."
In einem Interview zu Beginn des Jahres hatte Matthew das neue Album bereits als "Wieder das Gleiche, aber auch brandneu" beschrieben, und tatsächlich fühlt sich "Moon Mirror" wie eine Platte an, mit der die Band mehr will, als sich nur auf ihren Lorbeeren auszuruhen, und spürbar mehr als noch vor einigen Jahren im Hier und Jetzt lebt. "Das ist etwas, über das ich mir viel Gedanken mache", gesteht Matthew. "Ich ertappe mich immer wieder dabei, nicht im Moment zu leben und nicht dankbar zu sein. Nicht, dass Dankbar-Sein eine Pflicht wäre, aber es ist etwas, das dir guttut, denn je dankbarer du bist, desto glücklicher wirst du auch sein. Wenn du in einer Band bist, sind es oft die simpelsten Dinge, die am schönsten sind und dich besonders glücklich machen: Wenn du im Proberaum zum ersten Mal einen Song so richtig hinbekommst: Das fühlt sich so gut an, vor allem in der Gruppe, weil das etwas ist, das du nicht allein tun könntest. Da geht es um Kollaboration und um Teamgefühl!"
Dass die Songs dieses Mal mehr Zusammenhalt haben als auf den vorangegangenen Platten, hat aber auch damit zu tun, dass sie auf ungewöhnliche Weise entstanden sind, oder besser gesagt,: zu einer ungewöhnlichen Zeit: "Die meisten Songs habe ich ganz früh am Morgen geschrieben", verrät Matthew. "Für ungefähr sechs Wochen bin ich an den meisten Tagen um 5.00 Uhr morgens aufgestanden. Das war während der COVID-Zeit, wir waren alle daheim, und deshalb musste ich früh aufstehen, um das Wohnzimmer mal für mich allein zu haben. Das war noch, bevor ich mir das kleine Studio eingerichtet habe, in dem ich gerade sitze. Damals war ich aber noch zu Hause, und so früh am Morgen war alles ganz friedlich. Der wichtigste Unterschied war sicherlich, dass um diese Uhrzeit mein innerer Kritiker noch nicht wach war. Das klingt kitschig, aber ich glaube, dass es stimmt, denn normalerweise gehe ich bei allem sehr hart mit selbst ins Gericht, aber so früh morgens fühlte ich mich einfach frei. Ich schrieb in der Regel keine kompletten Songs, aber das Herzstück der meisten Lieder entstand auf diese Weise."
Ein paar Ausnahmen von dieser Regel gab es allerdings schon, denn an "Moon Mirror" hatte Louie Lino spürbar größeren Anteil, der Keyboarder, der Nada Surf schon seit rund 20 Jahren live und im Studio immer mal wieder begleitet hat, sich inzwischen als viertes Bandmitglied betrachten darf und sich auf dem neuen Album auch als Songwriter hervortut. "'Losing ' ist komplett von Louie geschrieben worden, mit Ausnahme der Zeile 'This is just today, this will go away', and für 'Moon Mirror' haben Louie und ich die Musik zusammen geschrieben. Er fing an, etwas zu spielen, ich fügte nur ein paar Kleinigkeiten hinzu - die Musik stammt größtenteils von ihm -, und ich habe dann einfach einen Text dazu improvisiert, den ich herumliegen hatte, seitdem ich eines Nachts, als ich nicht schlafen konnte, über den Mond nachgedacht und meine Gedanken schnell ins Handy gesungen hatte. 'The One You Want' dagegen haben wir alle zusammen bei einer Bandprobe in Ibiza geschrieben. Wir hatten uns beim Essen über 80er-Jahre-New-Wave-Musik unterhalten und über eine Doku, die ich gesehen hatte, in der die Geschichte des Backbeat beschrieben wurde. Also spielte Ira so etwas, das wie eine frühe New-Orleans-Version des Backbeats war und ich schrieb den Riff dazu, und der Song war innerhalb von 20 Minuten fertig. Alles passierte so schnell!"
Mit der schnellen Arbeitsweise kehrt der Schwung in die Musik von Nada Surf zurück. Dass man beim Hören schnell das Gefühl hat, dass in diesem Album mehr Energie steckt als in den Werken der letzten zehn Jahre, ist nicht zuletzt einem kleinen Kunstgriff in der Running Order geschuldet: "Wir haben bei dieser Platte härter an der Abfolge der Songs gearbeitet als bei allen anderen zuvor", verrät Matthew. "Es gab viel Hin und Her, und ich denke, am Ende haben wir versucht, das Album wie ein Konzert wirken zu lassen - und wir beginnen live eigentlich nie mit einem langsamen Song! [Die gedämpfte Mid-Tempo-Nummer] ´Moon Mirror´, die jetzt an dritter Stelle steht, sollte lange Zeit der zweite Song sein. Aber für mich fühlte es sich nie richtig an, weil wir in einem Konzert nie einen langsamen Song nach nur einem schnellen spielen würden. Die schnellen müssen immer paarweise kommen, das geht Hand in Hand mit dem eben schon erwähnten Vertrag: Wenn du schnell spielst, dann sind die Leute aufgeregt und bewegen sich oder werden einfach von dieser Energie umspült, da wäre es nicht fair, ihnen das nach nur dreieinhalb Minuten schon wieder wegzunehmen. Also muss immer noch ein schnelles Lied folgen!"
Die leichte Verschiebung in der Arbeitsweise führt auch dazu, dass Nada Surf, ohne dem harmonischen Grundgefüge untreu zu werden, das seit jeher als Gerüst für ihr Tun dient, den Weg des 2018er-Vorgängers "Never Not Together" fortsetzen und beim Blick über den Tellerrand zu unerwarteten Ergebnissen finden. War es beim letzten Album noch ein Kinderchor, ist es dieses Mal etwa das prägnante Piano in "X Is You", das überrascht. "So sehr wir auch über die Jahre hinweg konstant klingen, ist es nicht so, dass es irgendwelche Regeln gibt, wo jemand etwas spielt und wir denken: 'Oh, das sind nicht wir!' Das gibt es nicht. Die Sachen, die wir als Individuen hören, sind nicht nur viel vielfältiger als unser Sound, sie haben auch oft nichts damit zu tun. Ich zum Beispiel verbringe die meiste Zeit damit, Ambient-Musik zu hören, Hip-Hop und manchmal richtig alten Trance-Country oder Trance-Blues. Aber um zu dem Song zurückzukommen: Ich liebe diesen Klavierpart, und deshalb ist er auch so laut!"
Fast könnte man das Gefühl haben, dass der Wunsch, sich offen für neue Ideen und Einflüsse zu zeigen, auch im Text von "Second Skin" anklingt, wenn Matthew singt "I want to let everything in", aber tatsächlich dachte er dabei eher an persönliche Veränderung. "Der Song handelt davon, dass ich mich in meiner eigenen Haut immer wohler fühle, je älter ich werde", erklärt er. "Als junger Mensch war ich gehemmter und nervöser, aber mit der Zeit machst du eine Veränderung durch. Ich habe das schön öfter mal erwähnt, aber ich denke immer noch, es stimmt: Mit dem Alter wirst du glücklicher, weil dein Körper lernt, dass du dich nicht in so viel Gefahr befindest, wie du das früher gedacht hast. Als Baby ist es notwendig, Signale auszusenden und die Alarmglocken zu läuten, damit deine Eltern wissen, dass du Hunger hast, dass dir kalt ist oder dass du müde bist. In gewisser Weise läuten wir die Alarmglocken auch noch, wenn wir älter werden, aber eben weniger und weniger, weil man sich einfach behaglicher in seiner Situation fühlt. Ich schäme mich zum Beispiel nicht für mein Alter. Für einen Indierock-Typen bin ich zwar ziemlich alt, aber das ist vollkommen in Ordnung für mich. Zu realisieren, dass ich nicht mehr jung sein muss, ist eine große Erleichterung."
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