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BÔA
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Der Song als Freund
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Die britische Indie-Rockband bôa war für fast 20 Jahre aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Ähnlich wie im Falle von R.E.M. wurde das Projekt aber niemals offiziell aufgelöst, sondern bestand halt weiter, nur dass es seit 2004 keine gemeinsamen Aktivitäten mehr gab. Kurz rekapituliert: Das Projekt bôa wurde bereits 1993 in London als Band des Gitarristen Steve Rodgers (Sohn des Free-Frontmannes Paul Rodgers) gegründet und durchlief mehrere Inkarnationen von einer Funk-Band hin zum Rock-Ensemble, bis sich eine Besetzung herauskristallisierte, in der Steves Schwester Jasmine die Rolle der Sängerin und Frontfrau einnahm.
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In dieser Konstellation entstanden dann die beiden LPs "Twilight" - das 2001 zuvor ursprünglich unter dem Namen "The Race Of A Thousand Camels" in Japan produziert worden war - und 2005 "Get There" als zweites und bis heute letztes Album. Das nun ein neues Werk mit Namen "Whiplash" erscheint, ist dem Eigenleben der populären bôa-Debütsingle "Duvet" zu verdanken. Dieser Song erlangte nämlich bereits kurz nach seiner Veröffentlichung als Titeltrack der Anime-Serie "Serial Experiment Lain" eine gewisse Bekanntheit. 2003 erschien ein Remix des Songs und ein neues Video. 2018 schließlich erschien - ohne Wissen der Band - eine japanische Vinyl-Edition des Tracks und 2021 kam der Song via TikTok zu neuen Ehren, wo er bis 2023 dann in 250.000 Posts verwendet wurde - und über diesen Umweg erneut in die Charts gelangte. Es war dann schließlich das kanadische Label Nettwerk - mit dem die Band zwischenzeitlich einen Lizenzvertrag abgeschlossen hatte -, das an die Musiker mit der Frage herantrat, ob nicht die Möglichkeit bestünde, neues Material zu bekommen, was schließlich dazu führte, dass sich zumindest die drei Ur-Mitlieder Jasmine Rodgers, Alex Caird und Lee Sullivan bereit erklärten, ein neues Album einzuspielen.
Eine Kardinalfrage, die an dieser Stelle nicht vermieden werden kann, ist die, warum bôa überhaupt 2004 aufhörten, gemeinsam Musik zu machen und was die Musiker zu der Erkenntnis gebracht hat, dass es sich lohnen könne, nun doch wieder gemeinsam Songs zu schreiben? "Es war für uns eine ganz natürliche Sache, aufzuhören, nachdem wir 'Get There' veröffentlicht hatten", führt Alex Caird aus, "es gab einfach andere Sachen, die wir machen wollten." Jasmine studierte Zoologie und veröffentlicht gelegentlich eigene Folk-Songs, Alex Caird betätigte sich als Maler und Musiklehrer und Lee Sullivan zog sich ins Familienleben zurück. ”Ja, wir hielten die Sache zwar offen, aber ich denke, dass das Leben einfach das Ruder übernahm", ergänzt Alex. "der Grund, warum wir wieder angefangen haben, Musik zu machen, war dann der, dass wir über die ganze Zeit eine treue Online-Fangemeinde hatten und die Sache immer auf Sparflamme am Leben erhalten haben. TikTok und all die anderen Sozialen Medien halfen uns, präsent zu bleiben. Und als 'Duvet' dann erneut durch die Decke ging, war das ein guter Anreiz für uns, wieder zusammenzuarbeiten. Es war einfach die richtige Zeit mit alten Freunden neue Musik zu machen.”
Kommen wir mal zu dieser Musik: Die neuen Songs klingen, als ob bôa in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zusammen gearbeitet hätten. Gab es denn irgendwelche Änderungen gegenüber früher? "Also ich möchte mal einen schönen Gedanken formulieren", antwortet Jasmine, "vielleicht haben wir ja nie aufgehört, zusammen zu schreiben - waren aber halt nur nie zusammen im selben Raum. Und in dem Moment, in dem wir dann tatsächlich in einem Raum zusammenkamen, hatten wir gleich all diese Ideen, die zusammen passten. Offensichtlich hatten wir im Laufe der Zeit natürlich alle verschiedene Ideen, aber sie passten gut zusammen - ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, diese Ideen mit jemand anderem verwirklichen zu können.” Auch Alex hat eine eigene Vorstellung. "Ja, ich denke, dass wir alle diese Notwendigkeit verspüren, kreativ sein zu müssen", überlegt er, "wir konnten so sehr tief graben, um etwas sehr Einzigartiges zu finden und haben diese Möglichkeit sogleich ergriffen. Es war eine Gelegenheit etwas zu erschaffen, was wir selber gerne mochten und was hoffentlich auch den Leuten gefällt. Wir wollten auf keinen Fall irgendwelche Filler und haben deswegen hart daran gearbeitet, etwas Spezielles auf die Beine zu stellen.” Musikalisch stellt sich das dann so dar, dass quasi jeder einzelne Track des Albums das Potential hätte, als Single-Titel ausgekoppelt zu werden, denn jeder Song wartet mit einer eigenen attraktiven musikalischen Kernidee auf. Gab es denn auch inhaltliche Ansprüche in dieser Hinsicht? Gab es zum Beispiel ein Leitmotiv für die neue Scheibe? "Wir haben uns auf Trennungen, Zusammenbrüche und Scheidungen geeinigt", lacht Jasmine - und Alex ergänzt, dass man ja heutzutage ein bisschen mehr an Lebenserfahrung habe, aus der man schöpfen konnte.
Inwieweit spielt das Thema "Lebenserfahrung" eine Rolle? “Nun, als ich die Texte geschrieben habe, habe ich das aus Sicht einer Frau getan, die versucht, ihren Platz in einer Welt zu verstehen, die zu der Zeit musikalisch ziemlich männlich bestimmt war", führt Jasmine aus, "auch unter dem Gesichtspunkt, dass ich sowohl ostasiatische wie auch weiß-britische Roots habe. Ich habe also versucht das zu verstehen und in Texte umzusetzen. Nun gibt es aber noch einen weiteren Aspekt: Ich machte mir immer schon Sorgen um die Welt und tue das auch immer noch - tue aber heutzutage eher aus einer umfassenderen Perspektive, weil ich weiß, dass die Leute mir zuhören und Bedeutungen und Botschaften in unserer Musik finden. Wenn ich Songs schreibe, denke ich heute ein bisschen mehr darüber nach. Es gibt zwar immer noch eine Menge 'hier bin ich' und sicherlich spielen unsere Erfahrungen auch da mit rein - aber heute ist das alles ein bisschen bodenständiger als früher.” Und spielt das Alter da auch eine gewisse Rolle in diesem Zusammenhang? "Sicherlich", bestätigt Jasmine, "eine Frau eines bestimmten Alters zu sein, bringt natürlich gewisse Herausforderungen mit sich - zum Beispiel in Bezug auf die Identität. Ich denke, das ist für Männer genauso ist, kann aber nur für mich sprechen. Eine Identität und eine gewisse Neugier ist aber immer noch da. Wir schauen heute in den Spiegel und sind nun natürlich nicht mehr 25 Jahre alt, fragen uns dann aber eben, wer wir heute sind und was wir heute anzubieten haben."
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Was bedeutet Musik denn heutzutage für die bôa-Musiker? "Für mich persönlich gilt, dass ich immer schon Musik geliebt habe, weil das etwas ist, was ich gerne mache", antwortet Drummer Lee Sullivan - der damit allerdings den philosophischen Anspruch dieser Frage ein wenig verfehlt. Es ging ja eher darum, ob Musik nicht vielleicht auch eine übergeordnete Funktion erfüllen könne - beispielsweise als Stütze in Zeiten von Verlust und Trauer. "Ja, wenn jemand aus meinem Umfeld stirbt und ich einen neuen Song höre, dann weiß ich ja, dass diese Person diesen Song niemals hören wird - und das macht mich dann traurig", berichtet Jasmine, "und da gibt es dann noch diese Fähigkeit der Musik, Emotionen kanalisieren zu können, die ich sehr nützlich finde, weil sie auf einem universellen Level passiert. Es gibt einige Songs, die ich deswegen nicht hören kann, weil sie mich zu traurig machen - wie Jeff Buckleys 'Grace'. Musik bietet für mich aber immer auch eine Möglichkeit des Erforschens. Wenn ich einen guten Song höre, dann kann ich mich da wirklich reinsteigern und mich so sehr damit beschäftigen, dass mein ganzer Monat davon bestimmt werden kann und dieser Song zu einem Freund für mich wird. Ich sage auch immer: Du hörst nicht zum ersten Mal einen neuen Song, sondern du triffst ihn - und er gehört dann zu deiner Freundesgruppe. Du wendest dich dann an diesen Song, wenn du glücklich oder traurig fühlst und so empfinde ich die Musik.” Alex hat hingegen einen ganz anderen Anspruch: "Was ich interessant an der Musik finde ist, dass da Riffs und Akkordfolgen geradezu auf mich zu warten scheinen. Ich verändere und bearbeite diese dann schon noch, um bestimmte Sachen herauszuarbeiten - was schwer genug ist und oft über Versuch und Irrtum und eine unbewusste Ebene funktioniert - aber eigentlich sind sie schon da und müssen nur entdeckt werden. Das ist ein bisschen wie nach Gold zu graben. Auf einem generellen Level ist Musik eine Art Kommunikation. Wenn eine Akkordfolge eine bestimmte Empfindung auslöst, dann geht da etwas Universelles ab, das man nicht so leicht in Worte fassen kann.” Manche Songwriter sagen ja auch von sich selbst, dass sie sich lediglich als Kanal empfinden und die Musik durch sie zum Tragen kommt. "Das ist so, wenn wir auf der Bühne stehen und spielen", meint Jasmine, "wir haben zwar hart an der Musik gearbeitet, aber es fühlt sich für uns alles ganz selbstverständlich an. Wahrscheinlich ist also etwas dran an der Überlegung, dass wir Kanäle für die Musik sind."
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Während der Zeit der Veröffentlichungspause hielten die Musiker von bôa den Kontakt zu den Fans über ihre treue Online-Gemeinde aufrecht. "Ja - was ich an den Sozialen Medien interessant finde, ist der Umstand, dass du dort Leute triffst, die selber gar keine Musiker sind, aber Musik als Soundtrack für ihr eigenes Leben begreifen", erklärt Jasmine diesen Umstand, "beispielsweise indem sie bestimmte Songs hören, wenn sie mit dem Hund an ihrem Lieblings-Ort spazieren gehen. Man bekommt so einen Einblick in das Leben dieser Menschen, der sehr tief geht.” Was ist denn der Kern solcher bestimmter Songs? "Für mich ist das eine intuitives Gefühl, das Interesse auslöst", meint Alex, "man kann als Musiker nie wirklich einzigartig sein, weil alles schon mal dagewesen ist, aber es sollte sich zumindest neu und interessant anfühlen, was man macht - auch wenn es geborgt ist. Es muss seinen eigenen Charakter haben und für sich stehen können." Jasmine ergänzt diesen Gedanken noch: "Ich denke auch, dass es wichtig ist, für jeden Song eine Atmosphäre zu erschaffen, mit der er dann auch leben kann. Das ist dann, als ob etwas beantwortet würde, das man sich gefragt hatte. Dann denkt man darüber nach, was sie nächste Frage ist und findet sie dann mit dem nächsten Song. Nicht allerdings, dass wir überhaupt nach Antworten suchten - das passiert dann einfach.” Was hat sich unter dem Strich denn bei den neuen Aufnahmen gegenüber der früheren Produktionen geändert? "Wir waren weniger besoffen", schmunzelt Jasmine, "früher sind wir doch ziemlich über die Stränge geschlagen. Auf einer technischen Ebene hatten wir aber früher fünf Bandmitglieder und da gab es dann immer diesen Kampf um Anteile, den es heute nicht mehr gibt. Der so gewonnene Raum bot sich dann an, Komplexität hinzuzufügen - beispielsweise auch durch den Einsatz von Streichern. Das fühlte sich dann aber natürlicher an als früher. Live arbeiten wir heute auch wieder mit zusätzlichen Musikern, so dass wir diese Komplexität dann bei der anstehenden Tour auch wieder auf die Bühne bringen können.”
"Whiplash" bedeutet in der Übersetzung "Schleudertrauma" und Jasmine betrachtet dieses Bild als den Zustand, in dem sie, Alex und Lee sich befunden haben, als sie nach 20 Jahren Pause erneut ihr ganzes Leben erneut änderten, um sich wieder der Musik zu widmen. In diesem Sinne bietet die anstehende Tour im Frühjahr für die Musiker eine Gelegenheit, im direkten Kontakt mit den Fans, wieder zu sich selbst zu finden. Als Musiker haben sie das mit dem neuen Album bereits jetzt geleistet.
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Weitere Infos:
www.boaukofficial.com
www.instagram.com/boa_uk_official www.facebook.com/BoAUK
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Interview: -Ullrich Maurer- Foto: -Freddie Stisted-
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Aktueller Tonträger: Whiplash (Nettwerk/Bertus)
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