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GUINEVERE
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Das Licht des Menschseins
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Die in Mailand geborene Künstlerin Ginevra Battaglia hat sich lange und gründlich auf ihre Laufbahn als Musikerin vorbereitet. Nachdem Gin (wie sie sich der Einfachheit halber nennt) in Italien, Schottland und England Theater studiert hatte, tastete sie sich langsam an das Medium heran, indem sie zunächst an verschiedenen Performance-Projekten mitwirkte und sich auch als Fotografin, Malerin und Bildhauerin versuchte, um ihre musikalischen Bestrebungen unter dem Projektnamen Guinevere dann auch auf eine möglichst breite Basis stellen zu können. 2023 startete sie mit der EP "Running In Circles" einen ersten Testballon, mittels dessen sie ihre Ambitionen erstmals in Form eigener Songs in musikalischer Form zusammenführte - ohne sich dabei bereits auf ein bestimmtes Format festzulegen. Als Live-Künstlerin - etwa als Support Act für Bon Iver, Erika de Casier oder den Kings Of Convenience - präsentierte sie ihr Material einer größeren Öffentlichkeit, bevor sie sich schließlich daran machte, mit Hilfe des Produzenten Matteo Pavesi (Alice Phoebe Lou), der Songwriter-Kollegen Arturo Zanaica, Damon Arabsolgar und ihres Vaters Giovanni Battaglia ihr nun vorliegendes, monumentales, Genre- und Format-Sprengendes Debüt-Album "To All The Lost Souls" einzuspielen.
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Da gleich der erste Song "Little Blue Gin" in Form einer jazzigen, klassischen Songbook-Ballade das Thema des Albums aufzugreifen scheint, sei eingangs die Frage erlaubt, ob Ginevra sich selbst auch als eine verlorene Seele betrachtet, an die sich das Album ja richtet. "Ja - ich war mal ziemlich verloren", gesteht Ginevra, "ich war in meinen frühen 20ern sogar so verloren, dass ich nicht dachte, es jemals bis 25 schaffen zu können. Aber ich bin ja jetzt 26 und habe es also geschafft. Während dieser für mich schrecklichen Zeit - die aber zugleich das größte Geschenk in meinem Leben war - begann ich all diese persönlichen Songs zu schreiben, die sehr an das Gebunden waren, was ich durchlebte. Sie waren wie ein Gemälde dessen, was um mich herum passierte. Ich sah diese ganze Generation junger Menschen, die in einer Welt des Zusammenbruchs lebt, die droht in eine Million Stücke zu zerfallen. Ich habe Freunde verloren, die das einfach nicht mehr ausgehalten haben und in die Psychiatrie gehen mussten oder sogar gestorben sind. All die Songs, die in dieser Zeit entstanden sind, sind nun auf dem Album versammelt. Ich habe irgendwann dann realisiert, dass dieses Album nicht nur von mir handelt, sondern sich an all die verlorenen Seelen wendet, die ich hier porträtiere oder die sich durch meine Worte angesprochen fühlen. Ich hoffe, dass mein Album ihnen so vermitteln kann, dass sie nicht alleine sind. Das ist der Kern des Albums. Der letzte Song 'Per Andrea Per Sempre' wendet sich direkt an einen Freund, der verstorben ist - er ist aber der vielleicht lebensbejahendste Song den ich je geschrieben habe - und der verkörpert die ganze Botschaft des Albums; dass ich nämlich das Album allen verlorenen Seelen da draußen widme." Die Musik hat dann ja sicherlich auch spirituelle Aspekte für Ginevra. "Ja, denn wenn ich musiziere, dann fühle ich mich oft als leerer Kanal, durch den die Musik fließt", erklärt sie, "oder ich fühle mich wie ein paar Hände, die die Musik aufschreiben. Ich muss extrem offen sein für alles, was da kommt und das dann formen und nutzen. Ich betrachte Musik wie ein Zen-Meister. Man muss sehr fokussiert sein und wissen, was man möchte und seine Ohren öffnen, damit man die 'Jas' und 'Neins' im Fluss der Dinge erkennen kann." Heißt dass, dass Ginevra dann von der Musik geleitet wird? "Ja, gewiss", pflichtet sie bei, "ich machte zunächst den Fehler, zu versuchen, das Steuer in die Hand zu nehmen, als ich an dem Album arbeitete. Besonders meine zweite Single 'Generational Fear' betreffend. Ich habe so oft versucht, den Song so zu formen wie ich dachte, dass er sein müsste. Mir wurde dann allerdings klar, dass die Musik uns mitteilt, in welche Richtung sie gehen möchte. Das ist ein bisschen so, wie als Mutter einem Kind das Leben zu schenken. Man hat dann irgendwann keine Kontrolle mehr über dieses Kind, weil dieses eine eigene Persönlichkeit, seinen eigenen Geschmack und seine eigenen Interessen entwickelt. Ich muss also auf die Bedürfnisse meiner Songs achten, denn sie führen mich - nicht ich sie."
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Nun kommt im Falle von Guinevere dabei etwas heraus, was sich dann jeglicher Vergleichbarkeit entzieht. Wie läuft denn der kreative Prozess für Ginevra ab? "Für jeden Song gibt es eigentlich einen anderen Prozess", meint Gin, "immer dann, wenn ich entweder recht traurig bin oder mich inspiriert fühle und meinen Geist schweifen lassen kann, dann spüre ich die Notwendigkeit, einen Song schreiben zu müssen. Dann kommt mir auch schnell eine Melodie, der ich dann einige Textelemente hinzufüge, die ich in mir trage. Ich kann das nicht richtig beschreiben, aber ich kann dann die Elemente miteinander verbinden. Tatsächlich sind dann die ersten Eingebungen, die ersten Ideen und die ersten Improvisationen auch die definitiven. Manchmal muss noch ein wenig nachgearbeitet werden - aber meistens sind die ersten Elemente die, die ich auch verwende. Manchmal vergesse ich, dass das so läuft und kann mich dann nicht mehr an die ersten Eingebungen erinnern, wenn ich fertig bin. Deswegen achte ich heute darauf, dass immer ein Aufnahmegerät zur Hand habe, wenn mir eine musikalische Eingebung kommt." Das ist ja ein bisschen so, wie die perfekten Songs, die man sich als Musiker manchmal im Schlaf erträumt, an die man sich nach dem Aufwachen dann aber nicht mehr erinnern kann. "Ja - das ist bei mir auch so", bestätigt Gin, "meine erste Single 'Unravel' kam mir tatsächlich sogar während eines Traumes - als fast ausformulierter Songs sogar. Ich sah da einen Freund vor mir, der auf einem Felsen an der See saß und mir eine Melodie vorsang. Er kam dann auf mich zu und sagte: 'Gin, du musst aufwachen und diesen Song aufschreiben, denn er wird wichtig sein für dich und die Leute, die ihn hören werden'. Ich litt damals ziemlich an Schlaflosigkeit und musste im Traum mit mir diskutieren, ob ich aufwachen sollte, um den Song zu schreiben - aber am Ende hatte ich mich dann dazu entschlossen und es dann auch gemacht. So ist 'Unravel' entstanden. Ich habe oft Träume über das Song-Schreiben. Meistens wache ich allerdings tatsächlich auf, ohne mich an die im Traum perfekt funktionierenden Songs erinnern zu können."
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Ein Song sticht in seiner Ganzheit aus den anderen heraus - und das ist der Track "Generation Fear". Das nicht, weil er musikalisch aus dem Rahmen fiele, sondern weil er mit seiner konkreten Aussage über die "Generation Furcht" überrascht (die in dem Stück durch einen Kinderchor repräsentiert wird) und damit fast schon in der Tradition klassischer Protestsongs daher kommt. Was ist denn Hintergrund dieses Stückes? "Ich denke, dass das mein persönliches Statement zum Stand der Dinge ist. Es ist die einzige Möglichkeit für mich, deutlich zu machen, dass wir als Generation eine Stimme haben und diese als Mikrofon verwenden können, damit wir nicht für immer stumm und blind bleiben. Das ist die größte Kraft der Musik - uns Künstlern und den Menschen, die uns zuhören, einen Inhalt zu vermitteln. Es ging mir konkret gar nicht darum, eine Botschaft auszusenden, sondern die extreme Frustration unserer Generation zum Ausdruck zu bringen. Junge Leute wie ich und meine Freunde haben ihre eigenen sozialen Kämpfe und Schlachten. Wir kämpfen für eine bessere Welt und stoßen dabei auf ein System, das so schmutzig ist, dass es jedermann übel werden könnte." Kann Musik denn heutzutage überhaupt noch eine Wirkung wie die Protestsongs der 60er und 70er erzielen? "Es ist auf jeden Fall schwieriger geworden", räumt Gin ein, "gerade weil es so viel bedeutungslose Musik gibt. Wenn ich mir dann die Interviews von Künstlern anhöre, die solche Musik machen - und diese gefragt werden, warum sie denn diesen oder jenen Song geschrieben haben, dann kommt oft heraus, dass sie diesen aus Langeweile geschrieben haben. Was immer aber hingegen mit einer bestimmten Intention gemacht wird - auch ohne die Absicht, die Welt verändern zu wollen, aber mit der Absicht etwas Bedeutungsvolles tun zu wollen an das man wirklich glaubt und dass das Licht deines Menschseins enthält - dann wird das gewiss jemandes anderen Herz berühren. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Rucksack durch Vietnam gereist bin und dort viele traurige Vietnamesen gesehen habe - besonders Busfahrer, die die ganze Nacht unterwegs waren. Ich habe dann beschlossen, Blumen zu pflücken, wenn immer das möglich war und jeder traurigen Person, die ich auf der Straße getroffen habe, eine Blume zu schenken. Diese Tradition habe ich hier in Italien beibehalten. Als ich einem vietnamesischen Busfahrer die erste Blume gab, schaute er mich an, als hätte ich ihm ein ganzes Haus geschenkt. Da habe ich mir gedacht, dass wenn schon eine solche kleine Geste einen Menschen dergestalt beeindrucken könne - was würde ich mit meiner Musik erreichen? Vielleicht ja gar nichts, aber vielleicht kann ich ja zumindest einem Menschen vermitteln, dass er nicht alleine ist. Das ist dann genug für mich. Damit verändere ich dann nämlich die Welt - zwar nur mit einem kleinen Tropfen, aber immerhin. Alles was mit Hingabe und Absicht und Leidenschaft gemacht wird, macht die Welt ja auch ein bisschen schöner. Und die Welt braucht heutzutage einfach ein bisschen Schönheit."
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Weitere Infos:
www.instagram.com/thisisguinevere
www.facebook.com/thisisguinevere www.youtube.com/watch?v=BiP3BGVlMPE www.youtube.com/watch?v=RINvHtYvb5Q www.youtube.com/watch?v=mGt29fsQaXg
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Interview: -Ullrich Maurer- Foto: -Stefano D'Angelo-
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Aktueller Tonträger: To All The Lost Souls (La Tempesta Dischi)
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