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MOMMA
 
Vertontes Gefühlschaos
Momma
"You got to fuck shit up to be happy", sagt Allegra Weingarten und fasst dabei in wenigen Worten perfekt zusammen, worum es auf "Welcome To My Blue Sky" geht, der fabelhaften neuen LP von Momma, der Band, die sie noch zu Schulzeiten gemeinsam mit Etta Friedman in Los Angeles gegründet hat. Unerschrocken autobiografisch zeigen sich die zwei in den Songs ihres inzwischen vierten Albums verletzlich wie nie, gehen aber auch klanglich neue Wege, wenn die herrlich raue Grunge-Wucht des Vorgängers "Household Name" nun mehr produktionstechnischen Finessen und einem unüberhörbaren Faible für hinreißende Alternative-Pop-Ohrwürmer weicht.
Allegra Weingarten und Etta Friedman sind gerade einmal Mitte 20, dennoch sind Momma alles andere als Newcomer. Bereits vor zehn Jahren fanden die zwei zusammen und nahmen noch als Teenager im Sommer 2017 ihr Debütalbum "Interloper" auf - auch wenn sie sich heute wünschten, dass sie damals etwas mehr Geduld aufgebracht hätten. "Wir waren zu Beginn total versessen darauf, unsere Musik so schnell wie möglich zu veröffentlichen, weil wir sie unbedingt teilen wollten", erinnert sich Friedman beim Videochat mit Gaesteliste.de. "Inzwischen haben wir unsere Lektion gelernt, denn rückblickend sind wir nicht mehr so glücklich mit dem Sound dieser Songs, weil wir seitdem natürlich gewachsen sind und uns weiterentwickelt haben. Wenn wir damals nur einen Monat länger gewartet hätten oder zumindest jemanden für einen besseren Mix hätten sorgen lassen, würden wir heute vielleicht anders über diese Lieder denken." Trotzdem sind Momma alles andere als unzufrieden mit dem, was sie in den ersten zehn Jahren Bandgeschichte erreicht haben – Konzerte auf der ganzen Welt, Tourneen als Support für Death Cab For Cutie oder Weezer, ein Gastspiel beim Coachella Festival, und zuletzt sogar ein Auftritt bei "Jimmy Kimmel Live" im US-Fernsehen inklusive. "Wir sind total glücklich, wenn wir zurückschauen", gesteht Friedmann. "Als wir mit 16 angefangen haben, haben wir eine Liste mit all den Dingen gemacht, die wir gerne erreichen würden, wenn wir das Musikmachen weiterverfolgen, und das meiste davon haben wir inzwischen erreicht! Es ist total cool, jetzt rückzuschauen auf diese Dinge, die wir in unserer Highschool-Zeit aufgeschrieben haben und von denen wir damals dachten: Ach, das ist ja eh alles illusorisch, das sind reine Wunschträume!"

Zwei Jahre nach dem Erstling erschien die LP "Two Of Me", deren Veröffentlichung zwar mitten in die Lockdown-Phase der COVID-Pandemie fiel, trotzdem aber den Weg ebnete zu Labeldeals mit dem renommierten Indies Polyvinyl (in den USA) und Lucky Number (in Europa). Mit "Household Name", einer LP, die augenzwinkernd mit den Klischees des Rockstar-Daseins spielte und vollgestopft war mit wuchtigen 90er-Jahre-Indierock-Hymnen, deren dezente Slacker-Vibes zu Vergleichen mit The Breeders oder Veruca Salt einluden, gelang Momma 2022 dann der Durchbruch in ihrer Heimat Auf der anschließenden Tournee allerdings stürzten sich Momma so sorglos in das hedonistische Rock'n'Roll-Leben, dass am Ende nichts mehr so war wie zuvor. Untreue, Einsamkeit, übermäßiger Alkoholkonsum und der Beginn einer neuen Liebe ließen die turbulente Konzertreise für Weingarten und Friedman zur emotionalen Achterbahnfahrt werden und versorgten die zwei Masterminds von Momma auch mit reichlich Stoff für ihr inzwischen viertes Album. Die beiden beendeten langjährige Beziehungen, suchten sich neue Wohnungen in Brooklyn und widmeten sich neuen Romanzen, und genau davon handeln nun die Songs auf "Welcome To My Blue Sky", ein Album, mit dem die beiden keine Scheu vor Verletzlichkeit kennen und ihr Gefühlschaos in Töne gießen.

"Can I wish it away / I never thought that before" lautet die erste Zeile von "Sincerely", dem Eröffnungsstück des Albums, mit dem sich Weingarten und Friedman offen und ehrlich an die geliebten Menschen wenden, die sie durch ihr egoistisches Verhalten verletzt zurückgelassen haben. Auch "Rodeo" unterstreicht, dass sich Weingarten und Friedman sehr bewusst sind, was sie ihren Verflossenen mit ihrem Verhalten angetan haben. "Der Song ist aus der Perspektive der zwei Menschen geschrieben, die wir in einer romantischen Beziehung zurückgelassen haben", erklärt Weingarten. "Es ist unser Versuch, ihre Geschichten zu ehren, indem wir das Gefühl, durch jemand anderen ersetzt zu werden, aufgreifen." Dagegen zeigt "I Want You (Fever)" die andere Seite der Medaille. Hier sprechen die zwei ungeniert aus, was sie wollen – und lassen sich auch nicht davon abhalten, dass die Objekte der Begierde vielleicht schon vergeben sind. "Pick up and leave her, I want you, fever", heißt es kurz und knackig im unwiderstehlich eingängigen Refrain, und tatsächlich war es dieser mitreißende Power-Song, der den Weg für den Rest der Platte vorzeichnete und für eine ganze Reihe weiterer herrlich lebendiger, spürbar rastloser Lieder sorgte, mit denen Momma klanglich fantasievoll und abwechslungsreich neue Türen aufstoßen.

In der Tat nutzen Momma ihr Songwriting auf der neuen Platte mehr denn je dazu, in ihrem Leben aufzuräumen und sich ihrer wahren Gefühle bewusst zu werden. "Die Musik ist ohne Frage eine Form der Therapie für uns, sie ist unser Tagebuch", gesteht Weingarten. "Jedes Mal, wenn du etwas durchmachst und du nicht weißt, wie du es in Worte fassen sollst oder deinem Umfeld erklären sollst, hilft es, einen Song zu schreiben, um diese Emotionen zu verarbeiten und diese Gefühle in einem neuen Licht zu sehen." Friedman ergänzt: "Absolut! Der einzige Weg, den wir kennen, um bestimmte Situationen zu verarbeiten, ist, einen Song darüber zu schreiben. Es geht darum, zu entdecken, wie du dich wirklich fühlst, und es gibt unzählige Dinge, derer ich mir bewusst geworden bin, nachdem ich einen Song geschrieben habe, dieses: Oh, ich hatte gar nicht realisiert, dass das diese Gefühle in mir auslöst!"

Geschrieben haben die zwei die Songs zusammen und, anders als zuvor, auf Akustikgitarren, was ihnen die Freiheit gab, die Texte stärker in den Mittelpunkt zu rücken und die Lieder so spürbar intimer klingen zu lassen, auch wenn sie im Kern nach all den Jahren immer noch auf der besonderen Verbindung zwischen Weingarten und Friedman beruhen, die Momma von Beginn an zu etwas Besonderem gemacht hat. Die Rückkehr zu dieser Art von Intimität erinnerte sie zwei bisweilen die allerersten Songs, die sie damals zusammen in Highschool-Tagen geschrieben haben. Dennoch haben sich die Ziele dieses Mal ein Stück weit verändert: "Im Moment ist es mir wichtig, dass ich zu den Texten eine enge persönliche Bindung habe, da unser Songwriting gerade sehr autobiografisch geprägt ist", sagt Weingarten. Friedman nickt und ergänzt: "Wir haben schon immer Wortspiele gemocht, aber es ist unglaublich schwierig, einen Weg zu finden, deine Wahrheit poetisch auszusprechen, ohne kitschig zu klingen. Deshalb schauen wir zu den Songwritern auf, bei denen du beim Hören denkst: Ich wäre nie darauf gekommen, es so auszudrücken, aber ich weiß genau, was du meinst. Auf unserer neuen Platte gibt es nun auch ein paar Zeilen, bei denen ich mir denke: Ja, das ist genau das, was ich ausdrücken wollte!" Als Inspiration dabei dienten nur die Besten: Elliott Smith und Joni Mitchell gehören zu den Vorbildern, zu denen Momma aufschauen, wenn es darum geht, die eigene Verletzlichkeit in popmusikalisch wertvolle Melodien zu hüllen.

Neue Wege gehen Momma aber nicht nur textlich. Auch klanglich kommen sie ihren Vorstellungen auf "Welcome To My Blue Sky" so nah wie nie zuvor. Gemeinsam mit Bassist und Produzent Aron Kobayashi Ritch sowie Drummer Preston Folks größtenteils live im Studio eingespielt, unterstreicht das neue Album eindrucksvoll: Wenn es darum geht, die Tugenden des 90er-Jahre-Indierocks ohne Berührungsängste oder Tabus mit dem Alternative-Pop-Zeitgeist der Gegenwart zu verbinden, macht Momma so schnell niemand etwas vor! Dass sie dabei mehr als einmal überraschen können, wenn gleich eine ganze Reihe Stücke mit luftigen Akustik-Vibes abseits altbewährter Rock-Power begeistern, ist natürlich Konzept. "Es lang uns am Herzen, etwas zu tun, das ein bisschen unerwartet ist", erklärt Weingarten "Wir wollten vermeiden, dass die Leute auf 'Play' drücken und das Gefühl haben, sie hätten jeden Song oder jeden Gitarrensound voraussagen können. Es war uns wichtig, Momente auf der Platte zu haben, die die Leute innehalten lassen: 'Warte mal, das ist ein Momma-Song? Der hat ja gar keine Stromgitarren. Das ist cool!'"

Tatsächlich fällt auf, dass die auf "Household Name" noch bestimmenden Einflüsse aus dem klassischen 90er-Jahre-Indierock und die damit verbundene jugendliche Sorglosigkeit jetzt einem romantischeren, verträumteren Alt-Pop-Sound gewichen sind, der deutlich erwachsener klingt, denn es war Momma ein Anliegen, sich von den in der Vergangenheit gerne zitierten Referenzen wie Smashing Pumpkins, Nirvana oder Pavement ein bisschen abzunabeln. "Diese Bands zu entdecken war unglaublich aufregend für uns, aber jetzt haben wir versucht, weniger damit in Zusammenhang gebracht zu werden und weniger direkte Inspiration daraus zu ziehen", erklärt Weingarten. Stattdessen haben Momma nun spürbar mehr Freude daran, sich in Songs wie "Bottle Blonde" an die Fersen des Zeitgeistes zu heften, denn auch wenn auf "Welcome To My Blue Sky" viele Songs noch rau und wuchtig klingen, ist der Wunsch, sich sanfteren Tönen der Klangplatte zu widmen, doch häufig unüberhörbar. Statt der Pioniere des Alternative-Rock macht sich deshalb dieses Mal auch der Einfluss von mehr Acts aus dem Hier und jetzt breit, wenn Momma aus ihrer Liebe zu Alex G. Hovvdy oder Narrow Head kein Hehl machen.

Hatte man bei den ersten drei Alben das Gefühl, dass Momma den gleichen Zielen nachjagen, bis sie in der Lage waren, diese auf "Household Name" in Perfektion umzusetzen, ist dieses Mal der Wunsch spürbar, sich neue Ziele zu suchen - und diese auch zu finden. Der Aufnahmeprozess blieb dagegen unverändert. "Aron ist ja nicht nur unser Bassist, sondern auch unser Produzent, und er mischt auch unsere Platten ab. Ich denke, dass er mit dem letzten Album sein volles Potenzial ausgeschöpft hat", erklärt Weingarten. "Wir haben dabei eine Herangehensweise gefunden, mit der wir uns sehr wohlgefühlt haben, deshalb gab es für uns keinen Grund, dieses Mal etwas anders zu machen. Wir hätten all unser Geld dafür verschwenden können, in einem schöneren Studio mehr Zeit für die Aufnahmen zu verwenden, aber am Ende haben wir uns gesagt: Wenn du eine gute Methode gefunden hast und alles gut klingt, warum etwas verändern? Was nicht kaputt ist, kann man auch nicht reparieren!"

Dennoch kam die Band dieses Mal zu anderen Ergebnissen. In der Vergangenheit waren Momma von Platte zu Platte besser geworden, dieses Mal dagegen schien es ihnen eher darum gegangen zu sein, klanglich neue Facetten zu erkunden und so die Möglichkeiten zu entdecken. Die Suche nach neuen Herausforderungen führt das Quartett auf "Welcome To My Blue Sky" zu einem merklich detailverliebteren, durch alle möglichen Effekte und Filter gejagten Sound, der, wie es die Kollegen des NME so treffend ausgedrückt haben, auch im Vorspann einer Rom-Com der Jahrtausendwende nicht fehl am Plätze wäre. Doch macht es Weingarten und Friedman eigentlich Freude, sich auch in die technischen Aspekte des Musikmachens zu vergraben, oder ist das einfach ein notwendiges Mittel zum Zweck? "Ich denke, es ist ein wenig von beidem", antwortet Friedman. "Ich denke, wir haben bei dieser Platte die Stützräder abgelegt, und das hat uns mehr Raum gegeben, ein bisschen mehr herumzutüfteln. Das hat wirklich viel Spaß gemacht! Wir wollten kein zweites Album wie 'Household Name' machen, weil sich das angefühlt hätte, als würden wir auf einem Plateau verweilen. Der nächste Schritt nach oben wäre eine lupenreine Pop-Platte gewesen, aber das wollten wir genauso wenig, und deshalb haben wir uns für den Mittelweg entschieden und haben dafür gesorgt, dass wir Raum haben, uns auszuprobieren."
Angesichts dieser Neuausrichtung stellt sich natürlich die Frage, was in einem Momma-Song trotz der Veränderungen immer noch unverzichtbar ist. "Ich denke, dass wir Refrains schreiben, die hoffentlich unsere Handschrift tragen", sagt Weingarten. "Wir wissen ziemlich genau, was ein Momma-Refrain ist und was nicht! Jeder unserer Songs hat bestimmte Hooks oder Phrasen, die sich ganz nach Momma anfühlen, die einfach unser Stil sind." Friedman ergänzt: "Auf jeden Fall! Das ist eine sehr interessante Frage! Ich denke, das kann man auch auf unser Wechselspiel bei den Texten beziehen. Ich finde, dass es etwas durchaus Ungewöhnliches ist, dass wir für uns beide geschrieben haben, um das auszudrücken, was wir uns gegenseitig oder anderen zu sagen hatten."

Gleichzeitig sind die zwei nach den verrückten letzten Jahren aber auch froh, sich jetzt privat wie musikalisch auf das Wesentliche konzentrieren zu können, oder wie Weingarten es ausdrückt: "Ich persönlich brauche nichts besonders Kompliziertes, ich brauche nichts Übertriebenes, ich brauche nichts Durchdachtes, das über die Unmittelbarkeit einer guten Idee hinausgeht. Ich mag einfaches Songwriting, und wenn das bedeutet, dass es immer wieder dieselbe Akkordfolge gibt, die den Song aber nach vorn bringt, dann bin ich völlig zufrieden."






Weitere Infos:
www.mommaband.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Avery Norman-
Momma
Aktueller Tonträger:
Welcome To My Blue Sky
(Lucky Number/Rough Trade)
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