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MERCURY REV
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Das Licht am Ende des Tunnels
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Es ist 15.00 Uhr an einem überraschend sonnigen Juni-Tag in Köln. Mercury Rev - vertreten durch den harten Kern der Band, Jonathan Donahue, Grasshopper und Jeff Mercel - haben soeben das Interview mit der Gästeliste zu ihrem ungewöhnlich düsteren neuen Album "All Is Dream" beendet und fragen nun die zuständige Vertreterin ihrer Plattenfirma, was als nächstes auf dem Plan stehe. "Eine halbe Stunde Freizeit", lautet die Antwort. Jonathan nimmt das ein wenig zu wörtlich, fragt lächend: "Wie frei denn? So etwa?" und lässt dann seine Hosen runter, um als "Model für Unterwäsche" im Schatten des Kölner Mediaparks die Straße vom Plattenfirmabüro bis zum Cafe an der Ecke hinunterzustolzieren - unter den besorgt-amüsierten Blicken seiner Bandkollegen, die mit dieser Aktion auch keinesfalls gerechnet haben.
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Was diese kleine Anekdote beweisen soll? Trotz der dunklen Untertöne, die auf dem dieser Tage erscheinenden neuen Album unverkennbar sind, sind Mercury Rev keinesfalls griesgrämige Muffel. Dabei hätten sie eigentlich allen Grund dazu, denn in den letzten zwei Jahren ist für die Band aus der Kleinstadt Kingston im Staate New York längst nicht alles nach Wunsch gelaufen. Dabei schien sich eigentlich alles perfekt zu entwickeln, als sie im Januar 1999 zum letzten Mal für ein (triumphales) Club-Konzert in der Domstadt zu Gast waren. Nachdem sie fast ein Jahrzehnt nur einen Ruf als Kultband genossen hatten und durch persönliche Probleme und personelle Veränderungen in der Band immer wieder zurückgeworfen worden waren, hatte sich die Band mit ihrem 1998er Album "Deserter's Songs" selbst übertroffen, und auch die folgende Endlos-Tour bescherte den Amerikanern fast ausnahmslos hymnische Reaktionen. Und welche Band außer Mercury Rev kann schon von sich behaupten, daß Fotografen-Legende Anton Corbijn selbst angefragt hat, ob er nicht mal ein Video für die Band inszenieren dürfe?
Doch kaum hatten sie mit den Planungen für das Nachfolgealbum begonnen, nahm das Schicksal seinen Lauf, wie uns Schlagzeuger Jeff berichtet: "Justin und Jason Russo, die uns auf der letzten Tour begleitet hatten, spielen inzwischen in ihrer eigenen Band. Rick Danko kam als Ersatz in die Band und starb kurze Zeit später. Jack Nietzsche, der Arrangeur von Phil Spector, Neil Young und den Rolling Stones, war ebenfalls für die Aufnahmen vorgesehen. Wir hatten uns mit ihm getroffen, alles besprochen und wollten nach einer einwöchigen Unterbrechung anfangen. Als wir eine Woche später zurückkamen, war er tot. Das hat natürlich auch die Platte beeinflußt. Ich würde die Platte nicht grimmig nennen, aber sie ist streckenweise schon düster und mysteriös."
Plötzlich war die Euphorie einer bedrückten Stimmung gewichen. Obwohl die üppig orchestrierte Platte in ihrer musikalischen Dichte und Tragweite den hochgelobten Vorgänger sogar noch übertrifft, verließen sich Jeff, Gitarrist Grasshopper, Sänger/Gitarrist Jonathan Donahue und Produzent und Aushilfsbassist Dave Fridman im Gegensatz zu dem mit vielen, vielen Gästen entstandenen "Deserter's Songs" vor allem auf ihre eigenen Talente - und ihre Spontaneität. "Das Album hat dadurch einen streckenweise sehr rohen Charakter", findet Grasshopper. "Nicht roh im Sinne von 'schlecht gespielt', sondern im Sinne von 'aufregend und organisch'. Die neue Platte ist hoffentlich etwas komplexer geworden, alleine schon durch die Orchestrierung, aber wir wollten auch die Live-Atmosphäre einfangen. Ähnlich wie bei 'Deserter's Songs' gibt es auch auf der neuen Platte Momente von Tragik und Zerbrechlichkeit, aber es gibt auch immer das Element der Hoffnung!"
Trotz der feinen Unterschiede ist "All Is Dream" dennoch das wohl erste Mercury Rev-Album, das wirklich auf der Grundlage seines Vorgängers aufbaut und nicht wie in der Vergangenheit alles einmal Erreichte wieder über den Haufen wirft. "Das Album erzählt die Geschichte einer Verwandlung. Sie ist unser Versuch, hinter bestimmte Dinge zu schauen", erklärt Grasshopper, und Jeff ergänzt: "Das letzte Album hatte natürlich eine Menge Elemente, die uns gefallen haben und die wir beibehalten wollten. Einer der Hauptunterschiede aber ist, daß die Platte etwas lockerer ist. Dieses Mal war es so, daß einige der Songs einfach aus dem Nichts aufgetaucht sind. 'Hercules' zum Beispiel entstand fast zufällig. Jonathan und Grasshopper klimperten auf ihren Gitarren herum, und ich setzte mich einfach ans Klavier und spielte mit. Wir spielten dieses Thema bestimmt für 20 Minuten, und in der Zwischenzeit war unser Produzent Dave Fridman damit beschäftigt, Mikrofone im Studio aufzustellen und so weiter, und wir dachten, er würde den Aufbau für den Song machen, den wir eigentlich an diesem Tag aufnehmen wollten. Später stellte sich aber heraus, daß er unsere Improvisationen aufgenommen hatte. So entstanden einige der Songs sehr spontan, 'Spiders And Flies' ist auch ein Beispiel dafür."
Um an dieser Einheit zu feilen, verschanzte sich die Band einmal mehr im Tarbox-Studo von Dave Fridman, in der Mitte von Nirgendwo, ohne Ablenkungsmöglichkeiten weit und breit. Die Delgados gaben beispielsweise im Gästeliste-Interview zu Protokoll, dort genau deshalb nie wieder arbeiten zu wollen. "Ja, es ist schon ziemlich isoliert und einsam. Wenn du als Band aus einer Großstadt kommst, macht dir das bestimmt zu schaffen, wir dagegen kommen aus einer Kleinstadt, die fast ebenso isoliert und einsam ist, insofern war es für uns nur eine kleine Veränderung im Landschaftsbild. Im Winter kann dir das trotzdem manchmal etwas auf die Nerven gehen. Manchmal konnten wir nicht nach Hause fahren wie geplant, weil es dort rekordverdächtig viel Schnee gab letzten Winter. Sie haben einfach die Straßen dichtgemacht - das war schon hart. Manchmal waren aber gerade die unverhofften Extra-Tage, an denen wir eingeschneit waren, die produktivsten." Und Grasshopper ergänzt: "An solchen Tagen bist du dennoch oft kurz davor, durchzudrehen und Dave Fridmann zu erwürgen. Oder er uns, hahaha! Anderen Bands, die dort mit ihm arbeiten wollen, kann ich nur empfehlen, die Aufnahmen im Sommer zu machen."
Eine wirkliche Pause gab es nur für das einzige Konzert, das Mercury Rev letztes Jahr gespielt haben - in Tel Aviv! "Das war eine verrückte Geschichte", weiß Jeff zu berichten. "Wir waren im Studio und arbeiteten an neuen Songs. Plötzlich rief unser Manager an und sagte: 'Euch ist soeben ein Konzert in Israel angeboten worden!' Und wir sagten ohne zu zögern: 'Ja, okay, wir machen's!' - 'Stellt ihr irgendwelche Bedingungen? Ich weiß auch nicht, wie hoch die Gage sein wird!?' Und wir sagten nur: 'Ganz egal, wir wollen da hin!' Also haben wir's gemacht und es war mit einem Wort phantastisch. Ich denke, wir alle wollten aus historischen oder spirituellen Gründen immer schon mal nach Israel, und obwohl wir in der glücklichen Lage sind, sehr viel zu reisen, haben wir wohl noch nie einen Ort gesehen, von dem eine solch positive Kraft ausgeht, egal, ob du nun besonders religiös bist oder nicht. Diese Kraft ist wie Elektrizität. Wir waren neun Tage dort, haben die eine Show gespielt, und den Rest der Zeit haben wir als Touristen verbracht, wir wollten so viel sehen wie möglich."
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Schon auf den B-Seiten der Singles zum letzen Album hatten Mercury Rev auch ein außergewöhnliches Gespür für tolle Coverversionen entwickelt, egal, ob das nun unbekannte Neil-Young-Songs, halb vergessene John-Lennon-Solostücke waren oder Stücke von Nikki Sudden oder Nick Cave. Für das Konzert in Tel Aviv hielt die Band noch eine ganz besondere Überraschung bereit: "Not Dark Yet" von Bob Dylans letztem Meisterwerk "Time Out Of Mind" - und zwar in einer herzergreifend schönen Version. "Ja, das hat mich fast selbst überrascht, daß wir das gespielt haben", lacht Grasshopper. "Ich mag es aber besonders, neuere Songs zu spielen, so wie damals Jimi Hendrix. Die Beatles veröffentlichten 'Sgt. Pepper's' an einem Freitag, und schon am Samstag coverte Jimi das Titelstück bei seiner Show. Das ist großartig!" Mehr davon versprechen uns Mercury Rev für Oktober/November, wenn sie wieder durch deutsche Clubs touren wollen.
Apropos Tour: Von einer Band, die mehr als zwölf Monate auf Tournee war, hätte man eigentlich ein weniger getragenes Album erwartet. Denn auch wenn "All Is Dream" mehr als "nur" die konsequente Weiterentwicklung der Vorgängerplatte ist, sie ist fast ungewöhnlich ruhig. "Wir haben uns für die Aufnahmen viel Zeit gelassen", erinnert sich Jeff. "Anfangs waren viele Songs als Reaktion auf die lange Tournee ein bisschen mehr uptempo, aber letztendlich hat sich vieles verändert. In vielerlei Hinsicht ist es so, als hätten wir zwei Platten gemacht. Mindestens zwei. Wir haben auch viel Zeit damit verbracht, die richtigen Songs für die Platte auszuwählen. Einige waren frühe Favoriten, die trotzdem zwischendurch gar nicht mehr für die Platte vorgesehen waren, aber am Ende des Aufnahmeprozesses perfekt in das Gesamtbild passten."
Herausragende Singles wie "Goddess On A Highway" vom letzten Werk fehlen dem neuen Album zwar, dafür klingt die Platte wesentlich ausgeglichener. "Das war genau unser Ziel. Wir sind aufgewachsen mit Künstlern, die ALBEN aufgenommen haben, nicht zwei Singles und ein paar Filler", stellt Grasshopper klar. "Platten wie Lou Reeds 'Berlin' oder 'Paris 1919' von John Cale. Die Platte soll als Gesamtwerk betrachtet werden, und wir haben besonders viel Zeit darauf verwendet sicherzustellen, daß unser Album auch als Einheit funktioniert."
Statt auf einzelne Highlights setzen Mercury Rev also auf durchgängig hohe Qualität. Das macht "All Is Dream" beim ersten Hören zu einer weniger spannenden Angelegenheit als "Deserter's Songs", aber auf längere Sicht bringt das die Band dennoch auf die Gewinnerstraße.
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Weitere Infos:
www.mercuryrev.com
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Interview: -Carsten Wohlfeld- Fotos: -Pressefreigaben-
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Aktueller Tonträger: All Is Dream (V2/Zomba)
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