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TOM LIWA
 
Das nächste Teil des Puzzles
Tom Liwa
Auf "2 Originals Of Tom Liwa", seinem hervorragenden neuen Doppel-Album, präsentiert sich der Duisburger Songschmied als Dr. Jekyll und Mr. Hyde, als Lennon & McCartney in einer Person. Das eine Album namens "Nostalgia No Existe", eingespielt mit seiner Punkformation No Existe, zeigt den Liwa musikalisch wie textlich als Rebellen. Dabei poltert Liwa durch 17 Songs und schreit mehr als er singt. Derweil testet die Band die Lautsprecher auf ihre Belastbarkeit. Die vornehmliche Spielart heißt dabei Hardcore-Punk - in der unverfälschten 80er-Jahre-Variante à la Hüsker Dü. Passend zur Musik geht Liwa auf dem Album auch textlich in die Offensive. Es geht um den 11. September und den Fantasyboom, um Religion als Mittel, die kryptischen Momente des Lebens zu erklären, oder um den kollabierenden Kapitalismus. Das andere Album, "Ich reite ein Pferd, auf dem sonst nur Frauen reiten", ist unplugged. Zu Liwas Akustikgitarre und seiner hier wieder wie gewohnt einschmeichelnden Stimme gesellen sich vereinzelt Bass, Piano und Schlagzeug, stets sehr dezent, eher als Farbtupfer denn als Cinemascope-Breitwand-Epos. Zwei Platten, ein Fazit: Bitte sofort kaufen! Oder zumindest sofort zum Konzert gehen, denn Liwa, der noch bis Weihnachten landauf, landab so lange auf der Bühne steht, ist derzeit in großartiger Form. Ende November/Anfang Dezember wird er zudem die großartigen Low bei ihren fünf Konzerten in Deutschland supporten!
Im Kellergewölbe des Düsseldorfer Coffy spielte er unlängst locker zwei Stunden und präsentierte dabei - solo und akustisch - gut 30 Songs, die von den Highlights auf "Red nicht von Straßen..." bis hin zu Songs aus beiden neuen Platten reichten und so bewiesen, dass Punkrock à la "Radio" in Ausnahmefällen auch auf der Akustikgitarre ausgezeichnet funktionieren kann. Außer einer langen, amüsanten Geschichte über unversicherte Gitarren, Diebstähle, und unerwartete Wohltäter aus MeckPomm redete Liwa zwar ungewöhnlich wenig, spielte aber neben seinen eigenen Songs gleich zweieinhalb Coverversionen: Seine bekannte Bearbeitung von Van Morrisons "Sweet Thing" sowie "Here Comes Your Man" von den Pixies und "Hardly Getting Over It" von Hüsker Dü, und zwar in Versionen, die gut (Pixies) bzw. besser (Hüsker Dü) waren. Nach endlos vielen Zugaben wollte sich Liwa eigentlich mit dem gerade an dieser Stelle sehr passenden "Gib ihnen was sie wollen" verabschiedet haben, wurde aber für den epischen Listsong "Tal der nackten Männer" vom Publikum noch einmal auf die Bühne gezwungen - und zumindest das Duisburger Segment im Auditorium hatte offensichtlich seinen Spaß! Irgendwie war es eines der besten Liwa-Konzerte seit langem gewesen, obwohl man sich nachher im Gegensatz zu früheren Auftritten nicht ganz sicher war, was die Show zu einem Gewinner gemacht hatte, weil sie gleichzeitig seltsam ereignislos gewesen war. Letztendlich war es deshalb wohl "nur" das nächste Teil des Liwa-Puzzles. Nicht mehr, aber ganz sicher auch nicht weniger.

Das passt allerdings sehr gut zum Liwa-"Konzept" der letzten Jahre. Das ist nämlich nach einem Wust an Platten (auch dieses Jahr gab es mit "Lopnor" ja bereits eine Liwa-Platte) und unzähligen Konzerten für viele nicht mehr erkennbar, da stimmte uns Tom beim Gespräch vor dem Konzert zu. "Einen roten Faden gibt es auf jeden Fall. Es gibt aber wahrscheinlich Situationen, wo er nur für mich alleine erkennbar ist. Obwohl du ihn doch auch sehen dürftest?! Trotzdem kann ich genauso verstehen, dass andere ihn nicht sehen, und halte deswegen ja auch niemanden für einen schlechten Menschen. Für mich selbst zeigt sich der rote Faden gerade beim Experimentieren, was bei mir ja immer einen bestimmten Stellenwert eingenommen hat. Ich habe das des Öfteren nur weniger auf Bühnen oder Platten ausgelebt, weil es da immer dieses 'corporate Liwa'- oder 'corporate Flowerpornoes'-Ding war. Tom Liwa No Existe heißt ja nicht umsonst auf spanisch 'Tom Liwa existiert nicht' - das ist sozusagen der Liwa-imagefreie Raum, in den ich mich da begebe. Ich will mich einfach weniger einschränken. Es ist so, dass mir das Liwa-Soloding seit ewig langer Zeit total viel Spaß macht und fast auch als Selbstläufer funktioniert und dass ich in der glücklichen Lage bin, sagen zu können: Wenn das Pop-Business zusammenbricht, kann ich auf seinem Grab tanzen, weil meine Nische auch danach noch bestehen wird."

Trotzdem stellt sich die Frage, wo das Selbstvertrauen Liwas herrührt. Schließlich ist er seit mehr als 15 Jahren dabei, seine Veröffentlichungsquote erhöhte sich aber erst vor zwei, drei Jahren erheblich. Die Vermutung liegt nahe, dass Liwa sich seiner Nische und seines Publikums inzwischen so sicher sein kann, dass er gewillt ist, mehr zu wagen und alle sechs Monate eine Platte zu veröffentlichen. "Ich habe lange Zeit sehr viel strategischer über's Plattenmachen nachgedacht, dazu gab es einfach einen bestimmten Punkt, ab dem ich unheimlich viel geschrieben habe und meine Veröffentlichungsbereitschaft auch größer war. Das war interessanterweise der Zeitpunkt, als meine erste Tochter geboren wurde. Normalerweise denkt man ja, wenn jemand Kinder hat, kommt er überhaupt nicht mehr zum Arbeiten, das ist bei mir das genaue Gegenteil. Ich habe einfach produziert, produziert, produziert. Teilweise geplant, oft aber auch ungeplant. Mir gefällt der Gedanke, dass mich viele jetzt als hyperaktive Person sehen. Eigentlich könnte ich es mir jetzt leisten, die nächsten Jahre mal nur ein Album pro Jahr zu machen, ohne dass jemand denken würde, da stagniert was. Das heißt, die Ausgangsposition für die nächste Zeit ist gut. Ich weiß nicht, wie viel ich schreiben werde, denn das hängt ja immer davon ab, was in meinem komischen Kopf vorgeht, deshalb kann ich auch nicht wirklich behaupten, dass eine bestimmte Strategie dahinter gesteckt hat, dass ich diese vielen Platten gemacht habe. Ich glaube allerdings nicht, dass ich mir meines Publikums wirklich sicher sein kann. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich Leute beispielsweise durch No Existe provozieren lassen. Wenn man an jemand wie Bob Dylan denkt, sollte man meinen, der Wechsel von der Akustik- zur E-Gitarre ist seit mehr als 30 Jahren gegessen und heute etwas Lächerliches, Unbedeutendes, aber für viele Leute [in meinem Publikum] bedeutet der Sprung zu einer Band wie No Existe, die laut und krachig spielt und bei der ich mehr brüll' als singe, dass sie sich persönlich angegriffen fühlen. Das finde ich sehr interessant."

Gerade die Fans, die Liwa nicht seit den frühen Tagen der Flowerpornoes, sondern erst seit seinem Solodebüt verfolgen, zeigten sich von No Existe ziemlich geschockt. Letztes Jahr wurde Tom nach dem No-Existe-Konzert in Bochum sogar todernst von einem Zuschauer gefragt, wann er denn wieder "richtige" Musik mache. Auch ein Grund dafür, die Platten mit No Existe bisher nur als Tour-CD bzw. als Doppelalbum mit seinen Solosachen zu veröffentlichen, um nicht unnötig die Fans zu vergraulen? "Es ist nicht so, dass ich denke: Da pack' ich lieber noch eine Ballade dazu, damit das Publikum bei der Stange bleibt. Aber natürlich mache ich mir Gedanken und will die Leute auch nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich sind das nette Menschen, die viel Spaß mit meinen ruhigen Sachen haben. Die müssen nur halt verstehen, dass sie zu einem No-Existe-Konzert vielleicht besser nicht hingehen, sie müssen aber auch keine Angst haben, dass ich mal komplett in eine andere Richtung abdrifte, denn ich habe an den Solokonzerten selber viel zu viel Spaß, um darauf jemals zu verzichten. Es ist für mich einfach die natürlichste Arbeitsweise, mit einer akustischen Gitarre zu spielen. Vielleicht auch, weil ich's am besten kann, weil ich's am häufigsten gemacht habe. In handwerklichen Berufen hat man ja die Chance, von Jahr zu Jahr besser zu werden, hahaha."

Aufgenommen wurden die Platten nicht in einem typischen Tonstudio, sondern in Balk/Frysland bzw. auf Rügen - Meerblick inklusive. "Das ist ganz einfach eine Kosten-Nutzen-Rechnung, denn es ist genauso billig, Equipment zu leihen, einen Techniker mitzunehmen und alles an einem schönen Ort aufzubauen und dort aufzunehmen, als für zwei, drei Wochen ein dunkles Studio zu buchen, dort zu frickeln und abends nach Hause zu fahren, denn natürlich nutzt die Atmosphäre einer Platte. Wenn ich 'Ich reite ein Pferd...' höre, sehe ich das Ijsselmeer vor mir. Wenn ich die No-Existe-Platte höre... na gut, da sehe ich eine Menge anderer Sachen, aber ich habe auch ein Gefühl für die Räume des Hotels auf Rügen, wo wir das aufgenommen haben. Das ist ein bisschen so der Gedanke: Wenn der Jetset Platten an teuren Orten aufnehmen kann, zum Beispiel in Jamaika am Strand, warum soll ich das mit meinem Budget nicht genauso hinkriegen, wenn ich andere Dinge dafür herunterschraube."

Ein bisschen scheint es, als habe sich Liwa auch textlich ein wenig mehr sortiert. Die eher privaten Inhalte, wie wir sie auf "St. Amour" noch fast in Reinform fanden, finden sich eher bei seinen Solosongs, die politisch aufgeladenen Stücke eher bei No Existe. "Das bezieht sich eher auf die Entstehungsweisen. Ich habe an den Platten zeitgleich gearbeitet, wobei ich mir schon gesagt habe: So, nächste Woche sind jetzt mehr die No-Existe-Sachen dran! Und dann habe ich da mehr recherchiert und gemacht. Die Themen ziehen sich ja eigentlich durch beide Platten. 'Kylie & Jochen' [vom neuen Soloalbum] ist ja eigentlich genauso explizit wie 'Radio' von No Existe. Anders ist die Art, mit Sprache zu arbeiten, weil natürlich zu den Punksachen eine ganz andere Sprache passt. Bestimmte Ironisierungen bekommen da zum Beispiel etwas viel Sloganhafteres und würden im akustischen Kontext viel emotionaler wirken. Inhaltlich ist es insgesamt so, dass das Politischere in den letzten zwei, drei Jahren einen größeren Stellenwert bekommen hat. Nicht das Politische allgemein in meinem Leben, aber die Chance, die ich sehe, mich explizit zu äußern. Ich habe früher größere Probleme damit gehabt, und ich habe darüber auch lange nachgedacht, ob man sich zu den politischen Themen objektiv äußern kann, und wusste da lange nicht die richtigen Wege. Natürlich hilft mir heute auch der Zeitgeist, der politisch explizite Aussagen erleichtert."

Tom Liwa
Für seine letzten Platten griff Liwa des Öfteren auf ältere Texte zurück, die teilweise vorab schon auf seiner Website in schriftlicher Form veröffentlicht worden waren. Eine Abkehr von einer alten Arbeitsweise, eine neue Platte schlicht und ergreifend aus dem Material zusammenzustellen, das sich seit der letzten Veröffentlichung angesammelt hat. "Es liegt immer mal wieder etwas herum, und manchmal staune ich selbst, wo ich noch was finde. Manchmal finde ich alte Notizbücher von vor fünf, sechs Jahren wieder. Die langweilen mich total, bis plötzlich eine Passage kommt, die etwas genau auf den Punkt bringt - da hab ich dann plötzlich die Worte, die woanders ins Puzzle passen. LPs sind auf jeden Fall immer eine Einheit. Früher war das, was die Platte zusammenhielt, die Tatsache, dass die Songs alle in einem bestimmten Zeitraum geschrieben wurden, aber je älter ich werde, desto wichtiger ist es mir, den Platten eine bestimmte Richtung, eine bestimmte Grundstimmung zu geben, die auch schon bei den Aufnahmen in den Überlegungen eine Rolle spielen." Puristen mögen sagen: Alte Songs neu aufnehmen ist immer uncool. Selbst wenn Leute wie Neil Young (oder sogar Tilman Rossmy) vorgemacht haben, dass das durchaus gut sein kann. "Wenn es einen wirklichen Unterschied gibt, macht das ja auch Sinn. Wenn es nicht darum geht, damit anzugeben, was man sich in der Zwischenzeit für Skills angeeignet hat."

Für "2 Originals..." hat Liwa sogar Songs aus der heute oft vergessenen englischsprachigen Frühphase der Flowerpornoes ins Deutsche übersetzt und überarbeitet - ohne dass es jemand groß gemerkt hätte. "Ja, das funktioniert anscheinend. Ein sehr früher Fall war 'Halbtot & hässlich', den Song gibt es mit einem veränderten Text auch noch in einer Version, die 15 Jahre alt ist und noch vor der ersten Platte der Flowerpornoes auf einem Tape drauf war. Die Übersetzungen sind natürlich auch immer Aktualisierungen. Letzten Endes sehe ich da dann auch wieder den roten Faden. Das ist irgendwann aus mir rausgekommen, das ist mein geistiges Eigentum, und es gibt auch kein moralisches Gesetz, das mir verbietet, mein eigenes Frühwerk zu plündern."

Weitere Infos:
www.tomliwa.de
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Stefan Claudius-
Tom Liwa
Aktueller Tonträger:
2 Original Of Tom Liwa
(Normal/Indigo)
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