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BILLY BRAGG
 
The Tin Man
Billy Bragg
"Warte mal gerade, ich bin gleich wieder da, ich glaube, mir ist gerade ein Vogel ins Haus geflogen", meint Billy Bragg ganz außer Atem, knallt den Hörer auf den Tisch und läuft klappernd und türenschlagend durch's Haus. Ja, so kann das gehen, wenn man von der Stadt auf's Land zieht. Denn das hat Billy Bragg, der lange Zeit dafür bekannt war, ein Stadtmensch zu sein, vor einigen Jahren getan - seiner Familie zu Liebe und um zu sich selbst zu finden. "Ich denke, wenn du ein Vater wirst, muss sich deine Einstellung zu allem ändern", erklärt Billy (nachdem sich herausgestellt hatte, dass KEIN Vogel ins Haus geflogen war), "wenn das nicht der Fall ist, machst du wahrscheinlich etwas falsch. Das ist bei mir auch nicht anders als bei anderen. Deswegen ist für mich heutzutage auch das nicht etwa das schwierigste, Songs zu schreiben oder aufzutreten, sondern das meiner Familie gegenüber verantworten zu können. Ich versuche also, mein Leben um meine Familie herum zu arrangieren. Deswegen sind wir ja von London auch an die Küste gezogen. Es ist aber trotzdem noch schwierig. Letzte Woche war ich in Istanbul, nächste Woche bin ich in New York - aber ich gebe mir Mühe."
In der Tat: Die gerade erschienene Billy Bragg Retrospektive "Must I Paint You A Picture?" ist mindestens eine Doppel-CD geworden. Wenn man Glück hat und noch ein Exemplar der Erstauflage erwischt, bekommt man sogar noch eine dritte CD mit Outtakes und Oddities dazu. So weit so gut, aber warum heißt dieses Werk gerade "Must I Paint You A Picture?"? "Warum ich mir diesen Namen ausgesucht habe? Nun, der alternative Titel war 'Waiting For The Great Leap Forwards'. Das hätte aber wieder wie ein politisches Album geklungen. Und als ich mir die Stücke anschaute, erkannte ich, dass es eigentlich eine Sammlung von Liebesliedern ist. Ich wollte, dass die Leute kapieren, dass ich auch Liebeslieder und nicht nur politische Songs schreibe." Ja, gut, aber warum die Idee mit dem Bild? Ging es vielleicht darum, dass man den Leuten heutzutage ja immer alles erklären muss? "Ja, schon, das war die Idee", räumt Billy ein, "es ging darum, zu beschreiben, wer ich bin: Muss ich euch ein Bild malen? Ich bin Billy Bragg. Was muss ich euch denn noch erklären? Billy Bragg schreibt gleichermaßen Liebeslieder wie politische Songs. Weil es aber kaum Leute gibt, die das tun, hört das immer damit auf, dass man sich über die politischen unterhält." Die ja auch auf dieser Sammlung keineswegs zu knapp kommen. Was beschäftigt Billy denn momentan diesbezüglich am meisten? "Da gibt's eine Menge", meint der Meister, "momentan würde ich gerne die kommenden Wahlen dahingehend beeinflussen, dass möglichst viele Leute zur Wahl gehen. Wenn nämlich die Leute nicht wählen gehen - z.B. wegen des Krieges -, dann laufen wir Gefahr, auf ein Beteiligungs-Level wie in den USA zurückzufallen. Ich würde mich gerne weiter einmischen. So lange ich Ideen habe, Scheiben aufzunehmen, werde ich das auch tun." Das mit der niedrigen Wahlbeteiligung ist ja auch bei uns zu beobachten. "Genau. Das ist übrigens Blairs größtes Problem. Ich denke, dass er die Wahlen gewinnen wird - da gibt's kaum Zweifel dran. Blair hat ja schon gesagt, dass er von der Geschichte beurteilt werden wird. Wenn er nun in die Geschichte eingeht als derjenige, der den Glauben der Bevölkerung an einer Beteiligung an der Politik zerstört hat, dann kann er damit sicherlich nur schwer leben. Ich will jedenfalls dafür kämpfen, dass die Leute zur Wahl gehen." Es scheint ja so, als seien die Probleme in allen Industriestaaten sehr ähnlich, nicht wahr? "Das mag so scheinen", widerspricht Billy, "aber das, was z.B. dein Land kaputt gemacht hat, wenn ich das mal so sagen darf, ist der Fall der Berliner Mauer. Das ist die schreckliche Ironie. Was hat Margaret Thatcher zerstört? Der Sieg über die Sowjetunion als solche. Wenn du die alten Feindbilder wegnimmst, dann gibt das eine Art Bumerang-Effekt - nämlich dann, wenn die Leute feststellen, dass die Welt ohne die Sowjetunion gar nicht so sicher ist, wie sie dachten. Das erfahren die USA z.B. gerade auch im Irak. Nur weil die USA z.B. sich so verhalten, als könnten sie alles tun, weil sie die letzte Supermacht sind, die alle anderen besiegt hat, heißt das noch lange nicht, dass die Leute das akzeptieren und gutheißen, sondern dass sie etwas dagegen tun. Die Simplizität des kalten Krieges, des Bildes vom Bananenmenschen, Reagans Triumphierereien, Thatchers Rhetorik - das kommt heutzutage alles zurück und beißt die Konservativen quasi in den Arsch."
Was ja auch nicht gerade hilft, ist die Tatsache, dass - dank Internet & Co. - kaum noch die richtigen Informationen zu ermitteln sind, nicht wahr? "Ja, das ist ein großes Problem, weil heutzutage die Qualität deiner Informationen davon abhängt, von wem du sie bekommst - weil ja jeder alles verfremdet." Wie kann sich denn jemand wie Billy Bragg, der sich ja nun mal seine Gedanken um sein Heimatland macht, sich denn noch als Patriot verstehen - was er ja nachdrücklich tut? "Das ist schon ein Problem", räumt Billy ein, "ich liebe mein Land - aber nicht über alles. Es gibt zwei Arten von Patriotismus. Da ist die Art, wie wir uns jetzt z.B. über unsere Länder unterhalten - und zwar sowohl über die Sachen, die wirklich toll sind, aber auch über die Probleme, die wir haben. Und die andere Art ist die, die da sagt: Ich stehe zu meinem Land, egal, ob es Recht oder Unrecht ist. Und das ist nicht vernünftig. Das ist irrationaler Patriotismus. Ich bin in der glücklichen Lage, viel herumzureisen und viel zu sehen. Ich habe z.B. wunderschöne Sachen in Deutschland gesehen und ich kann durchaus vergleichen. Wenn z.B. die Leute sagen, dass wir Engländer gerecht und liberal sind, dann weiß ich genau, dass es ebenso gerechte und liberale Leute in Deutschland gibt. Genauso, wie es Faschisten in beiden Ländern gibt. Was ich sagen will, ist, dass die konservative Definition von Patriotismus die ist, alles zu vereinfachen. Patriotismus sollte mehr einschließen. Identität z.B., denn du hast viele Ebenen deiner Identität. Wir sind z.B. beides Europäer. Ich bin britisch - aber auch englisch. Du bist deutsch und kommst aus Nordrhein-Westfalen. Da gibt es viele Ebenen - verstehst du, was ich meine? Das Ende des kalten Krieges hat diese Ebenen noch flexibler gemacht - und dich denke, dass ist nicht schlecht. Und wenn du das dem Patriotismus hinzufügen kannst, ist es positiv." Billy erwähnte - wie auch immer wieder gerne in seinen Songs - den Faschisten: Wie erkenne ich denn heute einen Faschisten, wenn er sich nicht selber als solcher outet? "Ich denke, das ist einfach: Ein Faschist ist immer derjenige, der sagt, eine Minderheit verursache sein aktuelles Problem. Faschisten haben sonst nicht viel zu bieten. Es ist die Politik der bösen Jungs auf dem Schulhof, die auf den Schwachen herumhacken." Jetzt sind wir aber doch ein bisschen abgeschweift und doch wieder bei den politischen Themen gelandet. Und wie gesagt: Billy sieht sich ja gewiss universeller denn als bloßer politischer Aktivist.
Billy Bragg
Eine Erkenntnis, die im wohl im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Woody Guthrie gekommen ist, wie z.B. die DVD zu dem Projekt mit Wilco demonstriert. "Die hast du gesehen? Dann weißt du ja, wie meine Mutter über meine Musik denkt", lacht Billy, "was ich bei dem Projekt gelernt habe, ist, dass es sehr schwer ist, nicht als ein- oder zweidimensionaler Songwriter gesehen zu werden. Woody wird immer nur als politischer Songwriter gesehen. Und dann haben wir Lieder wie 'Ingrid Bergman' gefunden. Da habe ich meine Meinung gründlich geändert. Das hat mir klar gemacht, dass mein Vermächtnis auch außerhalb meiner politischen Songs liegen sollte. Denn - Überraschung, Überraschung - Woody war sehr menschlich. Die meisten seiner Lieder waren Liebeslieder. Und damit kann ich mich sehr gut identifizieren." Das einmal eingedenk: Was löst denn heutzutage bei Billy die Notwendigkeit aus, einen Song schreiben zu müssen? "Ich denke, dass es das Gefühl ist, dass ich etwas zu einer Unterhaltung beitragen kann", antwortet Billy wie aus der Pistole geschossen, "eine Perspektive vielleicht, die ich sonst nicht wiederfinde. Das war immer mein Ansatz - seien es Beziehungskisten oder politische Themen." Wenn jemand wie Billy Bragg auf sein Lebenswerk zurückblickt - was man ja mit einer defintiven Werksschau wie "Picture" nun mal tut, dann kann er ja sicher zufrieden sein. Als einer der wenigen aktiven politischen Liedermacher, der sowohl den Weg in die Charts findet, wie auch der äußersten Linken aus der Seele redet, hat er ja sicher eine Menge bewegt. Es scheint aber nicht, als wolle sich Billy auf seinen Lorbeeren ausruhen - Familie hin oder her. "Nun, im März werde ich solo auf Tour gehen, weil ich schon so lange keine Solo-Tour mehr gemacht habe", bestätigt er diesbezügliche Gerüchte, "ich sollte wohl im Januar damit beginnen, neues Material zu schreiben und dann werde ich es mit den Blokes aufnehmen. Es wird dann wohl Ende des kommenden Jahres oder Anfang 2005 eine neue Scheibe rauskommen. Wir waren neulich wieder mal in Australien und haben interessante Instrumente verwendet. Wir wollen weg von dem Standard Gitarren, Bass und Drum Sound. Es soll interessanter werden. Wir haben ältere Songs wie 'Levi Stubb's Tears' auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Ich will das ein wenig intensivieren." Und wenn das jemand wie Billy Bragg sagt, dann sollte man das lieber ernst nehmen! Billy Bragg, das ist so etwas wie der Tin Man aus Wizard Of Oz. Nicht nur, dass er ein wenig so aussieht, nein, wenn es sein muss, kann er nach wie vor die harte Schale in Form einer spröden Zinn-Rüstung anlegen - hat aber andererseits stets sein großes buntes Plastikherz in Form seiner Liebeslieder griffbereit.
Weitere Infos:
www.billybragg.co.uk
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Steve Double-
Billy Bragg
Aktueller Tonträger:
Must I Paint You A Picture? The Essential Billy Bragg
(Cooking Vinyl/Indigo)
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