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RATBOYS
 
Vier gewinnt
Ratboys
"Man ist nie fertig damit, besser zu werden!" Diesen gerade in Zeiten des "Style over substance"-Overkills bemerkenswerten Satz diktierte uns Ratboys-Frontfrau Julia Steiner bei unserem letztjährigen Treffen ins Notizbuch, jetzt unterstreicht die Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin, wie ernst es ihr mit dieser Aussage ist: Auf seinem famosen neuen Album "The Window" verleiht das Quartett aus Chicago - wie es ein US-Kritiker bereits treffend ausdrückte - seinem bescheidenen, rootsy Indie-Rock unerwartete Größe. Ohne die eigene Vergangenheit zu vergessen oder sich auf Teufel komm raus neu erfinden zu müssen, gelingt es Steiner und ihren Mitstreitern Dave Sagan an der Gitarre, Sean Neumann am Bass und Marcus Nuccio am Schlagzeug hier unter der Produktionsregie von Tausendsassa Chris Walla mit beeindruckender Leichtigkeit, mit diesen zwölf Songs neue Facetten ihres Tuns zu finden. All das macht aus "The Window" nicht nur das beeindruckendste Ratboys-Album bisher, sondern auch eine der schönsten Indierock-Platten des ganzen Jahres. Im November ist die Band nach ihren mitreißenden Supportshows für Julien Baker im vergangenen Jahr zudem auf Headline-Tournee in Europa zu Gast und wird dabei auch in Köln, Hamburg, Berlin und Darmstadt auftreten.
Mehr als ein Dutzend Jahre ist es inzwischen her, dass Julia Steiner und Dave Sagan Ratboys aus der Taufe gehoben haben. Gegründet als Duo während ihrer gemeinsamen Studienzeit in South Bend, Indiana, wich der eher akustische Folk-Sound ihrer ersten Veröffentlichung schon bald einem wuchtigeren Alternative-Rock-Einschlag mit 90er-Jahre-Note. Stromgitarren und wechselnde Mitstreiter sorgten über die Jahre dafür, dass sich die Band mit jeder Veröffentlichung organisch weiterentwickeln konnte, bis während der Aufnahmen zum 2020er-Album "Printer's Devil" die jetzige Besetzung zusammenfand. 2021 folgte dann "Happy Birthday, Ratboy", mit der das Quartett die damals noch zu zweit eingespielte Debüt-EP "Ratboy" von 2011 in ein neues Licht rückte und damit gewissermaßen ein Zwischenfazit nach einem Band-Jahrzehnt zog.

"The Window" vereint nun alles, was die Band auf den vorangegangenen vier Platten ausgemacht hat, doch obwohl sich die Amerikaner hier spürbar facettenreicher als zuvor präsentieren, wenn sie sich mit "Crossed That Line" auf Power-Pop-Terrain begeben, bei "Morning Zoo" mit heimeligem Country-Twang bestechen oder den Titelsong in folkige Melancholie tauchen, fehlt doch nie der Zusammenhang, fehlt nie das gewisse Ratboys-Gefühl. "Der große Vorteil bei dieser Platte, auch wenn das zunächst vielleicht nicht so ausgesehen hat, war sicherlich, dass wir endlos viel Zeit hatten, um an den Songs zu arbeiten", erklärt Steiner beim Video-Call mit Gaesteliste.de. "2020 war an Tourneen nicht zu denken, deshalb richtete sich unser Fokus schnell auf das, was wir daheim tun konnten. Letztlich haben wir zum allerersten Mal unglaublich viel Zeit zu viert in einem Raum verbracht und die Songs gemeinsam von Grund auf erarbeitet."

Das bedeutete auch, dass Steiner dieses Mal einen Teil der Verantwortung abgeben musste, wenngleich sie das keinesfalls als negative Erfahrung sieht. "In gewisser Weise war ich sogar ein wenig erleichtert", verrät sie. "In der Vergangenheit habe ich die Songs mit Dave geschrieben und dann Demos aufgenommen, für die wir Bass- und Schlagzeugparts zusammenschustern mussten, damit wir unseren Freunden, die diese Parts im Studio spielen sollten, vorab etwas zeigen konnten. Das fühlte sich immer etwas stressig an und wir waren nie sicher, ob wir das Beste herausgeholt hatten. Dieses Mal haben Marcus und Sean ihre eigenen Parts geschrieben, und dann war da eben noch richtig viel Zeit, um an den Arrangements zu feilen, um sie… nicht um sie zu perfektionieren, denn das ist nie unser Ziel, aber um sie richtig auszuarbeiten. In dieser Hinsicht war es tatsächlich eine große Erleichterung für mich, mir dieses Mal keine Sorgen machen zu müssen, ob meine willkürlichen Ideen für das Schlagzeug gut genug sind."

Die veränderte Herangehensweise führte teilweise auch für die Band zu unerwarteten Ergebnissen. Bestes Beispiel dafür ist der Song "Black Earth, WI", der mit fast neun Minuten nicht nur deutlich länger ist als alle anderen Ratboys-Nummern zuvor, sondern mit ausufernden Gitarrensoli auch stilistisch ziemlich aus dem Rahmen fällt. "Der Teil vor dem Gitarrensolo war eine kleine Songidee, die von mir stammte", erinnert sich Steiner. "Aber wenn ich den Song nur mit Dave gejammt habe, spürte ich immer den Druck, noch einen weiteren Gesangspart schreiben zu müssen, um einen Abschluss zu haben, denn ein langes Gitarrensolo ergab für uns als Duo einfach keinen Sinn. Da brauchte es tatsächlich die komplette Band, um den Raum dafür zu haben und die Geduld, sich an einem so langen Solo erfreuen zu können. Die kurze Version, die ich geschrieben hatte, war cool, aber die lange Fassung ist ohne Ende cooler, weil wir auf vier Menschen und all die zusätzlichen Elemente zurückgreifen konnten, um den Song über eine solche Länge zu tragen. Dass am Ende des Liedes noch einmal der Gesang zurückkehrt, war ursprünglich nicht geplant. Es war Marcus, der meinte: 'Hey Jules, du solltest noch eine letzte Strophe schreiben!' Das Ganze war ein sehr kollaborativer Prozess. Ganz abgesehen davon habe ich eine echte Schwäche für lange Lieder. Ich bin mir bewusst, dass ich damit gegen den Trend schwimme, aber ich liebe sie!"

Das Herzstück des Albums ist allerdings dennoch das fabelhafte Titelstück, mit dem Steiner die schon früh begonnene Tradition fortsetzt, sich die Themen ihrer Songs im engsten Familienumfeld zu suchen: "Ich bin nicht sonderlich gut darin, mir fiktive Geschichten auszudenken", gesteht sie lachend. "Die meisten meiner Lieder handeln von wahren Begebenheiten." Geschrieben hat sie den Text für "The Window" wenige Tage nach dem Tod ihrer Großmutter im Juni 2020. "Sie war nicht an Covid erkrankt, aber wegen der Pandemie konnte mein Opa sie nicht persönlich im Pflegeheim besuchen, um sich zu verabschieden", erklärt Steiner im Presseinfo. "Am Ende stand er vor ihrem Zimmer und verabschiedete sich durch ein offenes Fenster. Viele der Textzeilen sind direkte Zitate der Dinge, die er in diesen Momenten zu ihr gesagt hat." Obwohl das Thema Trauer und unser Umgang damit ein wiederkehrendes Thema der LP ist, sieht Steiner das Titellied trotz der herzzerreißenden Umstände, die zu seiner Entstehung führten, nicht als traurig an. Denn auch wenn in diesem Lied das Fenster eher eine Trennung symbolisiert, ist sie sich natürlich auch bewusst, dass es als Öffnung, als Zugang auch sehr positiv konnotiert sein kann. Die Metapher des Fensters findet sich derweil nicht nur im Titelsong. "In sechs der elf Songs des Albums taucht dieses Bild auf - das ist irgendwie verrückt!", erzählt Steiner. "Mir ist das anfangs gar nicht aufgefallen, bis mich Marcus eines Tages darauf aufmerksam gemacht hat. Im Song "The Window" benutze ich die Symbolik natürlich sehr bewusst, um die Geschichte zu erzählen, ansonsten war es eher ein unterbewusstes Bild, das sich in mein Schreiben im Jahr 2020 eingeschlichen hat, insbesondere die Idee, die Außenwelt zu beobachten, aber kein Teil davon zu sein, etwas nur aus der Entfernung wahrnehmen zu können, aber trotzdem eine Verbindung zu verspüren. Es ist ein banales Bild, das, wenn man sich darauf konzentriert, eine gewisse Bedeutung oder Schönheit gewinnt."

Trotz all der kleinen und großen Veränderungen im Entstehungsprozess war die einschneidendste Neuerung sicherlich die Entscheidung der Band, erstmals eine LP außerhalb von Chicago aufzunehmen. Entstanden ist "The Window" in der Hall of Justice in Seattle, dem Studio von Chris Walla, der in den letzten Jahren immer wieder als instinktgeleiteter Produzent betont emotionaler Alben aufgefallen ist. Steiner nennt die Platten seiner alten Band Death Cab For Cutie und seine Produktionsarbeit fürs Tegan And Saras "The Con" und Foxings "Nearer My God" als Gründe, warum Ratboys sich für ihn als Mann am Mischpult entschieden haben. Erstmals mit Walla in Kontakt gekommen waren Ratboys schon vor fünf Jahren auf ihrer gemeinsamen Tournee mit den gerade erwähnten Foxing. "Damals war ich etwas eingeschüchtert", gesteht Steiner. "Nicht, weil Chris eine einschüchternde Person wäre, im Gegenteil, er ist sehr zugänglich und bodenständig, aber ich dachte an all die Musik, die er gemacht hat, und wusste nicht so recht, wie ich mit ihm ins Gespräch kommen sollte. Zu mehr als einem kurzen 'Hallo!' hat es damals nicht gereicht. 2021, bevor wir uns endgültig für eine Zusammenarbeit mit ihm entschieden haben, konnten wir auf Tour in Seattle einen Tag mit ihm verbringen und ihn ein wenig besser kennenlernen. Er ist ein sehr zugänglicher Mensch und wir hatten sofort einen Draht zueinander ob der Bands, die wir alle mochten, und bekamen schnell ein Gefühl dafür, wie behaglich und spaßig es war, mit ihm über Bands zu fachsimplen, ohne groß über unsere eigene Musik zu sprechen. Da gab es wirklich viele Gemeinsamkeiten."

Dennoch hätte es sich zunächst einmal ein wenig surreal angefühlt, als die Band zu den rund dreiwöchigen Aufnahmen nach Seattle aufbrach, sagt Steiner: "Es gab gewisse Risiken, denn bei einer solchen Zusammenarbeit weißt du zunächst einmal nicht, wie sehr alle bei der Sache sind oder wie die Tage strukturiert sein werden. Wir haben darüber vorab nicht groß gesprochen und einfach darauf vertraut, dass wir in der Lage sein würden, spontan Entscheidungen zu treffen. Zum Glück stellte sich dann schnell heraus, dass wir ähnliche Vorstellungen hatten, wenn es darum ging, wann wir mit der Arbeit anfangen und wie viel wir jeden Tag schaffen wollten. Es war eine glückliche Fügung, dass sich alles von allein ergab, ohne dass wir viel reden mussten."

Doch nicht nur die Stadt, sondern auch die Aufnahmetechnik, die Walla im Kopf hatte, war Neuland für Ratboys. "Chris war sehr ermutigend, aber auch sehr hartnäckig bei seiner Idee, dass wir zum Start der Session auf Tonband aufnehmen sollten – etwas, das wir noch nie zuvor gemacht hatten", erzählt Steiner. "Er wollte auf Tape einfangen, wie wir die Songs gemeinsam in einem Raum spielen, um danach alles in den Computer zu kippen und alle weiteren Overdubs digital aufzunehmen. Zuvor hatten wir Chris viele Wochen lang Aufnahmen aus unserem Bandkeller geschickt und detaillierte Anmerkungen von ihm zurückerhalten, welche Songs wir tatsächlich aufnehmen sollten und wie sich die Lieder während unserer wöchentlichen Proben entwickelt hatten. Wir haben zwar keine definitiven Pläne geschmiedet, aber es gab ein fortwährendes gemeinsames Brainstorming."

Ohne sich untreu zu werden, machen Ratboys mit Wallas Unterstützung auf "The Window" einen großen Satz nach vorn, indem sie die Extreme ihres Soundspektrums mehr betonen und sich auch nicht scheuen, einen Hauch von Classic-Rock-Grandezza durch die Platte wehen zu lassen. Die Band zeigt dabei eindrucksvoll, was passiert, wenn sie zielgerichtet und unbeirrt den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt und sich dabei nicht von den Verheißungen des schnellen Erfolgs in der Musikindustrie aus dem Konzept bringen lässt. Für Ratboys, das wird vom ersten Ton an deutlich, ist die Musik eine Lebensaufgabe, ein Langstreckenlauf, kein Sprint, bei dem man Trends hinterherjagt.
Den Wunsch, aus Ratboys endlich eine komplette Band zu machen, hat sich Steiner mit "The Window" nun endgültig erfüllt, trotzdem hat sie noch viele Ziele und Ambitionen für die Zukunft. "Ich würde gerne weiterhin meine Fähigkeiten an der Gitarre und beim Singen verbessern und Lieder mit größerer Metaphorik schreiben und ganz allgemein auch besser darin werden, Lieder zu schreiben, bei denen es nicht nur um mich geht. Ich möchte mich einfach individuell weiterentwickeln und die Kommunikation mit meinen Bandkollegen und unseren Umgang miteinander so entspannt, frei und offen wie möglich gestalten, was ein ständiger Prozess ist. Ich habe noch einen langen Weg vor mir, bis ich mich beim Schreiben in einem Raum mit anderen Menschen wohlfühlen werde. Ich neige dazu, die meisten unserer Songs allein zu schreiben und dann Ideen in die Gruppe einzubringen, aber ich würde gerne an den Punkt gelangen, an dem ich ganz frei im Raum mit meinen Bandkollegen schreiben und spielen kann – das ist auf jeden Fall ein Ziel! Auf rein praktischer Ebene: Wir wollen überall hin! Ich möchte auf jeden Fall so viel wie möglich von der Welt sehen und einfach weiterhin überraschende, interessante Musik schreiben, die uns dabei hilft, das in die Tat umzusetzen!". Sie hält kurz inne. "Ich hoffe, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, und ich bin fest davon überzeugt, dass meine besten Songs noch nicht geschrieben sind!"




Weitere Infos:
www.ratboysband.com
www.facebook.com/ratboysmusic
twitter.com/ratboysband
www.instagram.com/ratboysband
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Alexa Viscius-
Ratboys
Aktueller Tonträger:
The Window
(Topshelf/Bertus)
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