Willy Vlautin und Amy Boone konnten es beide nicht fassen, dass sie mitten in Oberhausen in einem Club spielen sollten, der von vogelzwitscherndem Grün umgeben war und gingen nach dem Soundcheck erst mal auf Erkundungstour auf dem weitläufigen Gelände. Tatsächlich konnten es auch die Fans nicht fassen, dass es die Delines - nach mehreren, Pandemie-bedingt vergeblichen Anläufen - geschafft hatten, eine Europa-Tour zu realisieren und nun tatsächlich auftreten sollten. Vorsorglich hatten die besagten Fans dann aber auch wirklich so ziemlich alles mitgebracht, was Willy Vlautin und Amy Boone jemals produziert hatten (darunter selbstredend auch Willys Bücher), um sich das signieren zu lassen. Eine vor der Show angesetzte vorgezogene Autogrammstunde entwickelte sich dann dementsprechend zu einem heiteren Quellenraten nach dem Motto "Wo habt ihr das denn her"?
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Sei es drum: Die Delines hatten die Reise aus dem heimatlichen Portland, Oregon, auf sich genommen, um das brandneue Album "Sea Drift" zu präsentieren. Dafür hatte Willy Vlautin eine ganze Schar neuer Charaktere erschaffen - die dieses Mal an der US-Golfküste angesiedelt sind, was dann den Titel des zweiten Delines-Albums erklärt. Eigentlich aber ist es ja egal, wo die kaputten Typen, Kleingangster, System-Opfer und vom Schicksal ins Gesicht geschlagene Normalbürger wohnen, mit denen Willy seine Songs (wie auch seine Bücher) bevölkert. Aufgrund seiner inzwischen langjährigen Autorentätigkeit hat sich der ehemalige Richmond Fontaine-Mastermind nämlich ortsunabhängige empathische Fähigkeiten angeeignet, die es ihm ermöglichen, sich in so ziemlich jede Art von Charakter hineinversetzen zu können. Die Folge davon ist dann die, dass sich die Setlist eines Delines-Konzertes liest wie die Besetzungsliste eines Filmes, für den die Band dann den Soundtrack spielt. Die Hauptrolle in diesem Film spielt dann aber nicht Willy Vlautin selbst (der froh ist, bei den Delines als graue Eminenz im Schatten zu stehen), sondern Amy Boone, die heutzutage als Sängerin und Frontfrau der Band und natürlich als Sprachrohr der von ihr verkörperten Charaktere agiert. Und die anderen Rollen werden dann besetzt von Little Earl, Eddie & Polly, Maureen, Kid Codeine sowie die Namenlosen Typen, die in den Schatten lauern - und natürlich von Lynette, der Heldin von Willys letztem Roman "The Night Always Comes", der Cory Gray - der Keyboarder und Trompeter der Delines - dann ein Instrumental namens "Lynette's Lament" gewidmet hat, das auch bei der Show in Altenberg gegeben wurde. (Tatsächlich gibt es noch mehr von Lynette - aber ausschließlich auf einem teilweise instrumentalen Soundtrack, den die Delines als Beigabe zu Willys Buch eingespielt haben.)
Gegründet wurden die Delines dereinst ja, als Willy Vlautin es leid war, seine Songs selber vorzutragen - und dabei bei jedem Auftritt mit seinem Lampenfieber zu kämpfen hatte. Als er dann auf die Idee kam, Amy Boone (von den Damnations), die seine alte Band Richmond Fontaine schon gelegentlich als Backing-Sängerin unterstützt hatte, als Sängerin für sein neues Projekt The Delines einzusetzen, hatte er das geeignete Setting gefunden, bei dem er als Songwriter und Rhythmusgitarrist aus dem Hintergrund agieren und weiter Musik machen konnte - ohne sich dem Spotlight aussetzen zu müssen. Das erklärte dann also auch, dass Amy Boone an diesem Abend im Zentrum Altenberg die ganze Show nicht nur als Sängerin, sondern auch als Conférencière leitete. Tatsächlich äußerte sich Willy vom Bühnenrand nur dann, wenn Amy und er sich über Hintergrund-Details zu einzelnen Delines-Songs unterhielten.
Ursprünglich begannen die Delines ihre Laufbahn mit dem Debüt-Album "Colfax" 2014 noch als "Retro Country Band". Das lag aber nur daran, dass damals noch der Pedal-Steel-Player Tucker Jackson für die maßgeblichen musikalischen Akzente sorgte. Spätestens aber, als Keyboarder Cory Gray zu der Band stieß - der selber auch Trompete spielt und in dieser Eigenschaft auch für die Horn-Arrangements auf den Studioproduktionen verantwortlich zeichnete -, konnte Willy seiner eigentlichen Passion - dem schreiben von emotionalen Soul-Balladen - nachgehen. Eine Horn-Section gab es bei dieser Tour natürlich nicht (wir wollen ja nicht übertreiben) - aber dennoch wurden alle Tracks in Form relaxter und dank der formidablen Rhythmusgruppe mit Bassist Danny Trujillo und Drummer Sean Oldham - sacht groovender, teilweise jazzig/atmosphärischer Soul-Balladen gespielt.
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Das eigentlich bemerkenswerte an der Show war dann der Umstand, dass es eigentlich keine herausragenden Highlights gab - das aber überhaupt nicht störte, denn auf diese Weise geriet schlicht die ganze Show (inklusive eines ausführlichen Zugabenblocks) zum Highlight. Nicht schlecht angesichts der Tatsache, dass über 20 Tracks auf der Setlist standen und kaum ein Song unterhalb der Fünf-Minuten-Grenze nach Hause gefahren wurden. Langweilig wurde es jedenfalls überhaupt nicht - auch wenn die Tracks für die Live-Show gar nicht großartig verbogen wurden. Der Unterschied zu den Studioversionen ergab sich dann über die musikalischen Details und subtile Akzente - etwa wenn "Surfers In Twilight" fast ohne rhythmischen Druck zu einer fast greifbaren Beschreibung eines Filmsets geriet oder wenn "Kid Codeine" etwas lebhafter gespielt wurde als auf der Scheibe. Übrigens: Wer schon mal an der US-Golfküste gewesen ist, der konnte diese (wenn er wollte) in der Beschreibung der Szenarien der neuen Songs durchaus wiedererkennen.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Delines mit wenig auskamen, dafür aber viel erreichten - besonders auf der emotionalen Ebene, denn es gab wohl kaum jemanden im Auditorium, der von der Musik nicht in besonderer Weise berührt worden wäre. Das war dann wirklich eine Art von Sea Drift, von der man sich gerne wegtreiben ließ.
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